Das Geräusch eines Motors hallt durch die Dunkelheit. Ein Dröhnen vibriert durch Yuis Körper, während sie durch einen dichten, aufgewühlten Nebel über ein Ödland aus zerbröckelnden Pagoden und Gebäuden beschleunigt. Sie fährt an einem Motorradwrack vorbei, das am Straßenrand liegt. Nicht weit vom Motorrad entfernt versucht ein Fahrer aufzustehen, fällt wegen eines zertrümmerten Beins aber wieder hin. Sie kann nicht anhalten. Sie wird nicht anhalten. Sie muss gewinnen. Sie muss das Ziel erreichen, um ... Sie ist sich nicht mehr sicher ... Sie schaut nach links und rechts, während sie an den Ruinen ihrer Heimatstadt vorbeirast. Sie kommt erneut an dem Fahrer vorbei, als er versucht, dem brennenden Wrack zu entkommen. Das ergibt keinen Sinn. Nichts ergibt Sinn. Ein Dämon schreit im Nebel. Er scheint direkt hinter ihr zu sein, lauert im Nebel und wartet darauf, sie anzuspringen. Sie manövriert durch Fleischhaufen und abgerissene Körperteile gestürzter Fahrer, die verbrennen und wirbelnde Rauchwolken in die Dunkelheit aufsteigen lassen. Sie schreit hilflos, und die toten, brennenden Fahrer beginnen, zu einer Lichtsäule zu verdampfen, die die Dunkelheit durchbricht. Plötzlich steht ein Fahrer vor ihr. Sie gerät ins Schleudern, verliert die Kontrolle und stürzt auf die Straße. Ihr Inneres fühlt sich an wie Brei. Überall ist alles gebrochen. Gebrochene Knochen durchstoßen ihre Haut und lassen eine schwarze, warme Flüssigkeit heraussprudeln. Sie versucht aufzustehen, aber ein Knochen, der aus ihrer schwarzen Jeans herausragt, lässt das nicht zu. Wie der gestürzte Fahrer, den sie ignoriert hat, ist sie am Ende – hilflos und voller Benzin.
ERINNERUNG 370[ | ]
Misato beobachtet Yui genau. Von Nebel und Dunkelheit zu träumen bedeutet, dass man sich selbst als Verräter sieht ... vielleicht sogar als Versager. Yui nickt und saugt die Interpretation ihrer Freundin förmlich auf. Misato nippt an ihrem Bier. Licht zu sehen bedeutet, dass man alles überwindet, was einen zurückhält. Von einem Unfall oder einer Sackgasse zu träumen, könnte den Tod von etwas bedeuten, das man haben möchte ... etwas, das man sich wünscht. Yui seufzt und weiß nicht, ob sie das alles hören will. Der Dämon? Der Oni? Warum war er hinter mir her? Misato nickt. Der Oni könnte bedeuten, dass du darum kämpfst, dir deine Menschlichkeit zu bewahren, während du deine Träume verfolgst. Dass du vielleicht zwischen Recht und Unrecht, zwischen Gut und Böse hin- und hergerissen bist. Misato lacht vor sich hin, als sie ihr Bier austrinkt. Vielleicht ist Gewinnen nicht alles. Vielleicht bist du gierig. Vielleicht versuchst du, einen Ozean zu schlucken, obwohl ein Glas Wasser reichen würde. Yui höhnt. Gierig? Ich bin pleite und du bezahlst das Bier! Misato wackelt mit einem betrunkenen Finger in ihre Richtung. Bei Gier geht es nicht nur um Geld, Yui. Es geht darum, von allem mehr zu wollen. Mehr Rennen. Mehr Trophäen. Mehr Ruhm. Vielleicht tötet dein Bedürfnis, dich zu beweisen, etwas in dir, das nicht sterben will. Yui seufzt und schüttet ihr Bier hinunter. Nicht labern, sondern trinken. Hinter ihrem abschätzigen Lächeln glaubt Yui, dass ihr Alptraum nichts mit Egoismus oder Gier zu tun hat, sondern mit der Angst, nicht das Geld zu haben, ihren Traum verfolgen zu können.
ERINNERUNG 371[ | ]
Vielleicht ist Gewinnen nicht alles ... Es ist vielleicht nicht alles, aber es ist Miete und Lebensmittel und Bier für die nächsten Wochen, wenn sie das Secret4 gewinnt. Doch bevor sie gewinnen kann, muss ihr eine Chance auf ein Rennen gegeben werden. Favorit Shinji hat einen Weg gefunden, Yui aus dem Rennen herauszuhalten und die Organisatoren davon zu überzeugen, dass eine weibliche Rennfahrerin das Secret4 unterminieren würde. Es ist chauvinistisch. Barbarisch. Nicht zeitgemäß. Aber es ist auch ihre Realität. Sie sind nicht an jemanden ihres Kalibers gewöhnt. Kaliber? Shinji hat kein Kaliber. Er pfuscht und erniedrigt und macht sich lächerlich, um einen psychologischen Vorteil zu erlangen. Sie kennt sein Spiel, und er weiß, dass er eines Tages gegen sie antreten muss. Aber im Moment sagt er ihnen: Wenn sie fährt, wird er es nicht tun. Und da er der aktuelle Champion ist, glauben sie irgendwie, dass sie ihn brauchen, um das Geld anzuziehen. Sie setzt beim morgigen Rennen aus. Aber sie wird dort sein, um ihren guten Freund Hiro anzufeuern.
ERINNERUNG 372[ | ]
Shinji erzählt Unsinn über Yui, während sie Hiro die Ohren mit kämpferischen Worten füllt. Kämpferische Worte ... So nannte ihre Großmutter das früher. Worte mit Flügeln, die den Verstand erfüllen und den Geist beflügeln. Worte ... Worte sind mehr als nur Worte. Sie können aufbauen. Sie können zerstören. Sie können befähigen. Sie können Mäuse zu Göttern und Götter zu Mäusen machen. Shinji sagt Hiro, er werde ein Exempel an ihm statuieren, weil er Yui unterstützt. Hiro wirkt unberührt davon, aber Yui sieht, wie diese angsteinflößenden, schweren Worte in sein Ohr kriechen, sich an seinem Selbstvertrauen weiden und ihn bedrücken. Shinji dreht sich zu Yui um und macht sich über ihre Frisur lustig, zwinkert ihr zu und fragt, ob sie gekommen sei, um Männern beim Fahren zuzuschauen. Sie würdigt seinen Scheiß nicht mit einer Entgegnung. Sie will, dass Hiro gewinnt, aber die Termiten haben sich festgesetzt, und er ist ein Fahrer wie ein Panzer auf einem Motorrad, der kurz davor ist, zu zerbrechen. Sie flüstert ihm Siegerworte ins Ohr, wie es ihre Großmutter mit ihr zu tun pflegte. Aber er weiß nicht, wie er diese Worte für sich arbeiten lassen kann. Er hat verloren, obwohl das Rennen noch nicht einmal begonnen hat.
ERINNERUNG 373[ | ]
4 Uhr morgens. Yui beobachtet, wie Hiro losrast und die Führung übernimmt. Shinji und andere folgen dicht dahinter. Vielleicht haben ihre Worte geholfen. Hiro fährt durch die Kurve. Sie sieht zu, wie Shinji neben ihm fährt und sich hinüberlehnt. Er lehnt sich nah heran, streckt den Arm aus und berührt Hiros Schulter. Berührt ihn einfach. Nicht um ihn zu bedrängen oder zu verletzen, sondern um ihn zu ärgern. Um ihn abzulenken. Hiro flucht. Verliert seinen Fokus. Verliert die Kontrolle. Einen Augenblick später schleudert er auf den Gehweg, sein zerstörtes Motorrad hinterlässt eine Spur aus Funken und Öl. Sein Helm löst sich Schicht um Schicht auf, während er über den rauen Gehweg schleift. Er braucht Hilfe, aber die anderen Rennfahrer rasen alle an ihm vorbei, wollen das Preisgeld gewinnen. Hiro steht auf und torkelt irrsinnigerweise auf die Straße. Sein Helm existiert nicht mehr, und sein Gesicht ist bis auf die Knochen abgetragen. Sein Mund und seine Lippen sind verschwunden. Es gibt nur noch Zähne, wo früher die Lippen waren. Ein Schrei jagt ihr einen Schauer über den Rücken, als ein Fahrer in die Bremsen seines Autos tritt, die Kontrolle verliert und ihren guten Freund trifft.
ERINNERUNG 374[ | ]
Yui rast durch den Nebel, während ein rotäugiger Dämon sie verfolgt. Sie gerät außer Kontrolle, bricht sich die Beine und schleppt sich hilflos durch den Nebel. Schritte donnern auf sie zu und erschüttern den Boden. Sie schaut über ihre Schulter, doch alles, was sie sieht, ist der dichter werdende Nebel. Ein Stiefel zerquetscht ihre Hand. Sie schaut auf und sieht ... sich selbst. Yui erwacht in einem Krankenhaus neben Hiro, der am ganzen Körper verbunden ist. Aus den Bandagen ragen Schläuche heraus. Die Behörden wissen nicht, dass es ein illegales Rennen war. Wenn sie das wüssten, würden sie alle im Gefängnis landen. Sie ist sich nicht sicher, ob Hiro sie verstehen kann, aber sie versucht ihr Bestes, ihn zu trösten. Der Arzt sagt, Sie hätten Glück, dass Sie noch am Leben sind. Sie will ihm sagen, dass er nie wieder laufen können wird, kann sich aber nicht durchringen, es tatsächlich zu tun. Sie sagt gar nichts. Sie kann nichts sagen. Ein Fehlurteil und er hat alles verloren. Könnte jedem passieren. Yui schließt ihre Augen und stellt sich für einen Moment eine Welt vor, in der sie diesen Mistkerl jagt und wie einen Hund tötet.
ERINNERUNG 375[ | ]
Misato überbringt gute Nachrichten, als sie zu ihrem Lieblingsnudelrestaurant gehen. Die Organisatoren wollen, dass sie am Secret4 teilnimmt. Eine unbekannte Wohltäterin will sehen, was sie tun kann. Es gibt Gerüchte über eine Milliardärin, die Menschen helfen will, ihre Träume zu verwirklichen. Nichts davon ergibt Sinn. Yui spürt im Moment viele Dinge, aber ein überwältigendes Bedürfnis, Shinji in seine Schranken zu weisen, lenkt sie davon ab. Doch sie weiß, dass sie sich voll und ganz auf den Sieg konzentrieren muss. Keine Vergeltung. Keine Rache. Nicht einmal Klatsch und Tratsch. Alles auf Sieg. Nicht nur, um eine exzentrische Milliardärin zu beeindrucken, sondern auch, um die Miete und die Lebensmittelrechnungen zu bezahlen.
ERINNERUNG 376[ | ]
Yui geht einen Bergpfad hinauf, den sie wiedererkennt, und sieht eine Frau am Rande eines Abgrunds stehen. Sie streckt die Hand nach der Frau aus. Weiß, dass etwas nicht stimmt. Die Frau dreht sich ein Stück weit zu ihr um, und Yui merkt, dass sie eine ältere Version von sich selbst anstarrt. Graue Haare, blutunterlaufene Augen, Tränen, die das Gesicht herunterlaufen. Die ältere Yui starrt die jüngere Yui voller Sehnsucht an. Dann schüttelt die ältere Yui den Kopf, dreht sich um und springt. Die jüngere Yui eilt zu dem Abgrund und starrt auf unzählige Leichen, die auf den zerklüfteten Felsen den Freitod gestorben sind. Und sie alle sind ... sie selbst. Plötzlich blitzt ein Leben in ihrem Geist auf, das sie nicht kennt, ein Leben, in dem sie Hida nie verlassen und ihren Traum nie verfolgt hat. Ein Leben, in dem sie an der Schule lehrte wie ihr Vater. Nichts davon ergibt Sinn. Sie bedeckt ihr Gesicht mit ihren jungen Händen, schreit, wacht plötzlich in ihrem Bett auf und liegt in einer Pfütze aus klebrigem, kaltem Schweiß.
ERINNERUNG 377[ | ]
Misato lächelt Yui an. Vielleicht war es kein Traum. Vielleicht war es ein Blick in eine andere Welt – eine Welt, in der man einen ganz anderen Weg geht. In der einen wird man zu einem rachsüchtigen, rotäugigen Rohling und in der anderen zu einem Feigling, der seine Träume nicht verfolgt. Yui schüttelt den Kopf. Ich glaube nicht an diesen magischen Mehrwelten-Bullshit. Misato verzieht das Gesicht, als sie das Wort „Magie“ hört. Keine Magie, sondern Quanten ... Quanten-Bullshit. Misato knabbert Erdnüsse und nippt an ihrem Bier. Wenn es ein Traum ist, hat er wahrscheinlich mit etwas zu tun, von dem du dich entfernst. Etwas, das du zurückgelassen hast. Was bedeuten die Klippen? Yui erinnert sich an einen Moment mit ihrer Großmutter. Sie erinnert sich, dass sie mit ihren Freunden und Cousins in einem Freizeitpark war. Sie verlor einen Staffellauf, weil ihre beste Freundin anhielt, um zu sehen, ob es ihrem Konkurrent gut ging, nachdem er gestolpert und gestürzt war. Ihre Teamkollegin half dem Jungen auf, während ein anderes Team die Führung übernahm und das Rennen gewann. Sie war wütend und sie hatte wochenlang nicht mit ihr gesprochen. Yui erinnerte sich daran, dass sie zu dem Abgrund ging, wo sie oft plauderten – in der Hoffnung, dass sie dort sein würde, aber das war sie nicht. Ihre Großmutter ging zu ihr hinauf und hörte sich ihre Seite der Geschichte an und schlug sich auf die Seite ihrer Freundin.
Yui erinnerte sich vage an die Moralpredigt. Ihre Großmutter saß neben ihr, starrte hinunter auf die zerklüfteten Felsen und lachte nervös. Du liebst die Gefahr ... Und mehr als die Gefahr liebst du das Gewinnen. Das habe ich immer getan und werde ich immer tun. Aber Gewinnen ist nicht alles, Yui. Sag mir ... was nützt es, zu gewinnen, wenn man alle Freunde verliert? Mit wem wirst du deine Siege teilen? Yui lacht darüber und bezeichnet ihre beste Freundin als schwach. Ihre Großmutter legt eine besorgte Hand auf ihre Schulter. Sie ist nicht schwach. Ich würde sagen, sie ist das genaue Gegenteil und opfert den Sieg lieber, um jemandem in Not zu helfen. Mitgefühl ist das, was uns menschlich macht, und wenn man das verliert, ist man ... nur eine sehr gute Maschine, die gewinnt. Was macht es schon aus, wenn man die Welt gewinnt aber seine Menschlichkeit verliert? Yui schließt die Augen und weiß, dass ihre Großmutter Recht hat, und doch ... ist da etwas in ihr, das es hasst, zu verlieren, das sich weigert, zu verlieren. Etwas, das sie trotz allem zum Sieg treiben wird. Eine Sache, die das Beste und das Schlechteste in ihr zum Vorschein bringt.
ERINNERUNG 378[ | ]
Motoren rasseln und brüllen in einer endlosen Kakophonie, während Shinji sich mit Yui anlegt. Alle wollen den Jackpot, und sie braucht dieses Geld mehr denn je. Sie arbeitet an einer Highschool als Hilfslehrerin für Englisch, aber das reicht kaum aus, um über die Runden zu kommen, geschweige denn die Reparatur ihres Motorrads zu finanzieren. Ihr Motorrad ... Es ist krank. Früher liebte sie den Klang ihres Motorrads, aber in letzter Zeit hat sie eine Veränderung bemerkt. Ein paar Töne sind nicht mehr zu hören, und der Klang schwingt nicht mehr wie früher durch ihren Körper. All diese Motoren singen ihr einzigartiges Lied, und ihr Motorrad singt etwas Seltsames und Schiefes. Sie braucht das Preisgeld, und das Sponsoring einer Milliardärin wäre auch nicht so schlecht. Das Letzte, was sie tun wird, ist, sich von diesem Narren ablenken zu lassen. Sie lächelt ihn an, nachdem er sie beleidigt und ihr damit droht hat, sie von der Straße zu drängen. Yui begegnet seinem Blick. Du wirst es versuchen, aber du wirst stürzen und verbrennen, sobald du das tust. Sie sagt es mit dem Gewicht und der Gewissheit eines Fluches. Shinji sagt ihr, sie solle sich aus dieser Sache heraushalten und die Männer fahren lassen. Sie weiß, was er zu tun versucht. Er versucht, sie zu stören. In ihren Kopf einzudringen. Die Vision des Sieges in ihrem Denken zu ändern. Er sagt ihr, das Rennen gehöre ihm. Sie lässt ein Lächeln aufblitzen. Nicht, solange ich lebe.
Sally Smithson: Die Säuberung von Crotus Prenn[ | ]
ERINNERUNG 906[ | ]
Das Geräusch eines Motors hallt durch die Dunkelheit. Ein Dröhnen vibriert durch Yuis Körper, während sie durch einen dichten, aufgewühlten Nebel über ein Ödland aus zerbröckelnden Pagoden und Gebäuden beschleunigt. Sie fährt an einem Motorradwrack vorbei, das am Straßenrand liegt. Nicht weit vom Motorrad entfernt versucht ein Fahrer aufzustehen, fällt wegen eines zertrümmerten Beins aber wieder hin. Sie kann nicht anhalten. Sie wird nicht anhalten. Sie muss gewinnen. Sie muss das Ziel erreichen, um ... Sie ist sich nicht mehr sicher ... Sie schaut nach links und rechts, während sie an den Ruinen ihrer Heimatstadt vorbeirast. Sie kommt erneut an dem Fahrer vorbei, als er versucht, dem brennenden Wrack zu entkommen. Das ergibt keinen Sinn. Nichts ergibt Sinn. Ein Dämon schreit im Nebel. Er scheint direkt hinter ihr zu sein, lauert im Nebel und wartet darauf, sie anzuspringen. Sie manövriert durch Fleischhaufen und abgerissene Körperteile gestürzter Fahrer, die verbrennen und wirbelnde Rauchwolken in die Dunkelheit aufsteigen lassen. Sie schreit hilflos, und die toten, brennenden Fahrer beginnen, zu einer Lichtsäule zu verdampfen, die die Dunkelheit durchbricht. Plötzlich steht ein Fahrer vor ihr. Sie gerät ins Schleudern, verliert die Kontrolle und stürzt auf die Straße. Ihr Inneres fühlt sich an wie Brei. Überall ist alles gebrochen. Gebrochene Knochen durchstoßen ihre Haut und lassen eine schwarze, warme Flüssigkeit heraussprudeln. Sie versucht aufzustehen, aber ein Knochen, der aus ihrer schwarzen Jeans herausragt, lässt das nicht zu. Wie der gestürzte Fahrer, den sie ignoriert hat, ist sie am Ende – hilflos und voller Benzin.
ERINNERUNG 907[ | ]
Heute Nacht gibt es eine Atempause in der Anstalt, und Sally tut, was jeder vernünftige Mensch tun würde: Sie klammert sich mit aller Kraft daran. Das Gewicht, das in ihrem Brustkorb sitzt, schmilzt weg, so dass ein gieriger Atemzug möglich ist. Der Geruch von Schweiß und staubiger Wäsche wird aus ihrem Gedächtnis verdrängt und durch Erinnerungen an Tomaten und frische Erde ersetzt. Ihre Füße tragen sie mit klappernden Absätzen den Flur hinunter, und die Schritte hallen in tiefen Schatten wider. Sie erlaubt sich nicht, die Flecken an den Wänden oder den Sprung in der Fensterscheibe zu sehen. Sie könnte sie aus dem Gedächtnis zeichnen, aber in diesem Moment hören sie auf zu existieren.
Als Sally das Ende des Flurs erreicht, blickt sie in das Zimmer eines Patienten, das von einer Klinge aus Mondlicht beleuchtet wird, die sich über den Boden schiebt. Ein junges Mädchen, das auf dem Bett sitzt, zuckt vor dem herannahenden Schatten zurück. Erst als Sally ins Mondlicht tritt, hört das Mädchen auf, sich an einen Stapel Blätter zu klammern. Sally schenkt ihm ein mitfühlendes Lächeln, ... dem ängstlichen Mädchen. In der Anstaltsakte ist ihr Name als Marion aufgeführt, aber das Personal hat Spitznamen für die Patienten. Der katatonische Junge, der schwitzende Kauz, das ängstliche Mädchen. Alle bestehen aus zwei Wörtern.
Sally setzt sich auf die Bettkante und flechtet das trockene, spröde Haar des ängstlichen Mädchens. Warst du heute im Gemeinschaftsraum? Das ängstliche Mädchen umarmt sein Kissen. Ich bin hier geblieben. Ein leichtes Stöhnen dringt durch den Flur, ein erstes Anzeichen dafür, dass der Frieden bald gestört wird. Sally gibt ihr Bestes, das zu ignorieren, indem sie weiter die Haarsträhnen flechtet. Wusstest du, dass in diesem Raum ein Stuhl am Fenster steht? Von dort kannst du zusehen, wie die Rotkehlchen ein Nest in den Bäumen bauen. Das ängstliche Mädchen schaut zum Flur, seine Schultern verkrampfen sich, während es dem entfernten Stöhnen lauscht. Sally reibt sanft die Schulter des Mädchens und bietet ihm so wortlos ihr Mitgefühl an. So bleiben sie für kurze Zeit sitzen, bis im Flur ein Schrei ertönt.
ERINNERUNG 908[ | ]
Sally marschiert den Flur entlang zur Quelle des Schreis. Die Patienten, jeder in seinem eigenen Zimmer, reagieren, ein Intermezzo aus Schreien und Rufen gesellt sich dazu, begleitet vom dumpfen Geräusch eines Kopfes, der gegen die Wand geschlagen wird. Die Lautstärke nimmt zu, lauter und chaotischer, bis schließlich, wie bei einem Crescendo, ein Patient aufheult. Sally stürmt in ein Zimmer und bewegt sich auf eine schrecklich vernarbte Frau zu, die an das Bett gefesselt ist und deren Schrei langsam in ein sanftes, fröhliches Lachen übergeht. Hat Ihnen das Lied gefallen, liebe Krankenschwester? Ich nenne es das Konzert der Geisteskranken.
Die Anstalt ist jetzt hellwach, aufgebracht, ängstlich, die vereinzelten Schreie und das Stöhnen der Patienten, hallt durch die Gänge. Sallys Brustkorb verkrampft sich, während sie um Atmen ringt. Warum ... Warum müssen Sie sie reizen? Die gebrochene Frau lächelt unter dem Verband, der ihr vernarbtes Gesicht verdeckt. Durch zwei kleine Löcher funkeln zwei unterschiedliche Augen, blau und orange. Ach, süße Krankenschwester, wozu sind die Hofnarren da, wenn nicht zum Unterhalten? Sally weiß, dass sie sich zurückhalten sollte. Sie weiß, dass es nichts zu gewinnen gibt, wenn sie mit ihr herumdiskutiert, und doch kann sie sich nicht zurückhalten. Sie sind Menschen, und so krank sie auch sein mögen, sie verdienen Mitgefühl. Dies ist ein Satz, den Sally sich im Laufe der Jahre immer wieder selbst gesagt hat, aber das ist alles, was daraus geworden ist: ein Satz, eine Reihe sorgfältig einstudierter Wörter, die durch rissige Lippen gepresst werden. Vielleicht ist das der Grund, warum die gebrochene Frau kichert, als würde sie mit einer Freundin herumscherzen. Verdienen sie Mitgefühl? Die meisten haben nichts als Schmerz beigetragen, und die anderen haben überhaupt nichts beigetragen.
ERINNERUNG 908[ | ]
Sally macht erst gar nicht den Versuch, ihren Ekel zu unterdrücken, als sie das Lächeln der gebrochenen Frau betrachtet. Sie kritisieren Ihre Mitpatienten dafür, dass sie zu dieser Welt nichts beigetragen haben, doch was haben Sie zu bieten? Die gebrochene Frau setzt sich unbeholfen auf ihr Bett und zieht an ihren Fesseln wie eine rastlose Marionette. Ich habe mehr für diese Welt getan als tausend Missionare. Als ich die Krankheit sah, habe ich sie nicht verhätschelt, gefüttert, ihr die Tränen aus den Augen gewischt – ich habe sie beseitigt! Die gebrochene Frau sieht, dass sie Sallys Aufmerksamkeit hat. Wenn wir wollen, dass die Menschheit überlebt, müssen wir ihre Hüter sein, süße Krankenschwester. Und doch ... haben wir zugelassen, dass eine Infektion eitert – der Beweis findet sich in diesen Mauern. Die zerbrochene Frau hält inne und lässt ihr Argument sacken. Geschrei und Gestöhne der Geisteskranken hallt durch die Gänge.
Sally spürt, wie sich ihre Nerven bei jedem chaotischen Geräusch, das auf sie zukommt, anspannen. Sie hat wenig Lust, zu diskutieren, doch die Pflicht zwingt sie dazu. Befinden Sie sich nicht auch innerhalb dieser Mauern? Würde Sie das nicht zu einem Teil der Infektion machen? Die gebrochene Frau lächelt, als ob sie diese Frage erwartet hätte. Ich bin die Lösung, in die Stätte der Infektion verdammt. Wie Sie war ich Krankenschwester. Aber ich diente nicht den Patienten, sondern dem Allgemeinwohl. Mit einer einfachen Injektion habe ich die Schwachen aus dem Genpool entfernt. Ich habe ihrem Todeskampf zugeschaut und gewusst, dass meine Handlungen von ehrlicher Wissenschaft unterstützt wurden. Nur wenige haben die Stärke, dies zu tun. Und wissen Sie, wie mich die Gerichte genannt haben, weil ich der Logik gefolgt bin? Wahnsinnig!
ERINNERUNG 909[ | ]
Die Tage vergehen, aber Sally ist unsicher, wie viele. Sie findet sich immer wieder in der Anstalt wieder und kümmert sich um die Verzweifelten, Gewalttätigen und Schwachen. Am Ende des Flurs hat der böse Mann seine Fesseln wieder abgenommen. Wie ein Wolf will er sich nur auf die Suche nach den Schwachen machen, und es scheint, dass er seine Beute gefunden hat. Er zieht den nackten Körper des widerlichen Sohnes an den Knöcheln hinter sich her. Blut strömt aus dem Kopf des Sohnes. Sally weiß nicht, ob der Mann tot ist. Um Hilfe rufend, sprintet sie mit einer Beruhigungsmittelspritze durch den Flur. Es gibt keine anderen Krankenschwestern, die ihr zu Hilfe kommen könnten. Dafür haben finanzielle Einschränkungen gesorgt. Sie zieht in Erwägung, dass sie dieses Mal in den Tod rennen könnte, aber in ihren Bewegungen liegt etwas Unfreiwilliges, als wäre sie zum Zuschauer geworden. Der böse Mann lässt die Knöchel des widerlichen Sohnes los und richtet seine Aufmerksamkeit auf Sally. Harvey Kavanagh, den pummeligen Pfleger, bemerkt er an der Ecke hinter sich nicht. Harvey stößt den bösen Mann zu Boden, wie er es bei so vielen Patienten getan hat. Sally spritzt dem bösen Mann ein Beruhigungsmittel in den Hals. Der Bösewicht sackt auf der Stelle in sich zusammen und bleibt verwirrt auf dem Boden liegen.
Der heruntergekommene Gang ist ganz still. Sally schaut sich Szene zu ihren Füßen an. Kavanaghs mächtiger Brustkorb hebt und senkt sich, als wieder zu Atem kommt. Sein dicker Arm liegt über dem Bösen Mann, der friedlich ruht. Der widerliche Sohn liegt – entweder bewusstlos oder tot – vor ihnen, Kavanaghs Stiefel ist an sein Nasenloch gepresst. Die Blutspur von seinem Kopf zieht sich über zehn Meter den Flur entlang, bevor sie sich in einen angrenzenden Raum schlängelt. Sally lacht, um sich vom Schreien abzuhalten.
ERINNERUNG 910[ | ]
Sally findet sich im Zimmer der gebrochenen Frau wieder. Die ungleichen Augen der gebrochenen Frau wirken sympathisch, während das Sonnenlicht auf sie scheint, und doch spricht sie mit spitzer Zunge. Der blutige Aufruhr gestern hätte nicht sein müssen. Solche Jungs haben eine gewisse Art und Weise, ... sind aber nicht für die Zivilgesellschaft gebaut. Der große, brutale Kerl ... Nun ja, er ist so glatt wie die Haut in seinem Gesicht. Und der andere, ach, der andere verbirgt es gut. Aber haben Sie sich seinen Familiennamen angesehen? Das erklärt alles.
Sally will an einen sanften See denken, an Lilien und – nein ... Alles, was sie sehen kann, sind die schmutzigen Anstaltswände und die blutigen Verbände. Es gibt keine sanfte Brise, die sie ablenkt, nur die Stimme der gebrochenen Frau, die immer eindringlicher wird. Hatten Sie nicht einen Ehemann, süße Krankenschwester? Ich erinnere mich an den Zeitungsartikel ... Hand aufs Herz, meine Liebe, ich habe über seinen unglücklichen Tod geweint. Sie hätten sicherlich schöne Babys bekommen. Jetzt hier zu sein, eine Witwe mit reinen Genen, die dem Schmutz der Welt dient ... Was für eine Wende der Ereignisse.
Sally steht auf und lässt einen halb angelegten Verband zurück. Ihre Füße schlurfen vage, als sie auf die Tür zugeht. Sie versucht, ihre Gedanken zu verdrängen, weiß, dass sie das nicht denken sollte, aber ... das ist so grausam. Ihre Liebe war rein, ihr Mann rein, und diejenigen, die in diesen Räumen leben, sind alles andere als rein. Doch diese kranken, verdrehten Bestien erhalten die Fürsorge und Aufmerksamkeit, die eigentlich dem Mann gebührt, den sie verloren hat.
Ihre Kehle schnürt sich mit jedem Atemzug weiter zu. Ihre Sicht verschwimmt. Sie will weglaufen, weiß aber, dass es keinen Zweck hat. Ganz gleich, wohin sie geht, sie findet sich immer wieder in diesen Räumen wieder. Eine krasse Erkenntnis durchbricht die wirren Gedanken: Nicht sie ist es, die die Wahnsinnigen in diesen Räumen gefangen hält, sondern es sind die Wahnsinnigen, die sie einsperren.
Sie fällt auf den unnachgiebigen Boden.
ERINNERUNG 911[ | ]
Ein üppiges grünes, mit lachsfarbenen Lilien gesprenkeltes Feld und Kiefernwälder umgeben den See. Die Farben sind lebendiger, als in Sallys Erinnerung, und obwohl es nach frischem Regen riecht, ist der Himmel klar. Andrew sitzt neben ihr auf einer Decke, sein blondes Haar strahlt in der Sonne fast weiß. Sie trägt das Kleid, das er ihr gekauft hat. Ein Symbol meiner Liebe, hatte er auf die Karte geschrieben, und für einen Mann, der nicht viel redet, waren sie umso bedeutungsvoller.
Er wischt die Grasflecken von seinen schwieligen Händen und wendet sich Sally zu. Wir sollten nach Hause gehen. Der See wird auch morgen noch hier sein. Eine kalte Brise weht über die Wiese und bringt den Geruch von Schweiß und staubiger Wäsche mit sich. Sie fasst sein Handgelenk mit beiden Händen. Nur noch eine Minute, bitte. Eine weitere.
Sie hört Sägen, die Holz durchtrennen, wobei sich der Ton mit jedem gewaltsamen Hieb höher wird. Sie hält Andrews Handgelenk noch fester, legt ihren Kopf auf seine Schulter. Ein riesiger Baum knallt hinter ihr auf den Boden und schickt Zweige und Schmutz in die Luft. Einer nach dem anderen kommen sie mit dröhnenden, bodenerschütternden Schlägen zu Boden. Sally hustet durch eine Staubwolke und hält Andrew die ganze Zeit fest im Griff.
Eine Blutperle rinnt seinen Arm hinunter und kommt auf ihrem Finger zur Ruhe. Sie blickt hoch und sieht den aufgebrochenen Schädel ihres Mannes und Blut und Gehirnstücke. Ein strahlend weißes Auge blickt aus dem Gemetzel heraus, konzentriert sich auf sie. Wir hätten wunderschöne Babys bekommen, Sally.
Sie bricht über den blutroten Überresten seiner Brust zusammen und weint. Die Haut an ihren Händen schält sich ab und wird zu Staub. Sie kann ihn nicht mehr festhalten. Alles, was sie war, bis hin zu dem Kleid, das sie trug, zerfällt und wird vom Wind davongeweht.
Die verschwitzten Hände von Kavanagh schütteln sie, als sie auf dem Boden der Anstalt aufwacht.
ERINNERUNG 912[ | ]
Sie ist wieder im Flur. Der Duft, die Flecken, das Klappern ihrer Absätze – es ist dasselbe. Gelegentliches Stöhnen und Schreien wird aus nahe gelegenen Räumen herangetragen, kurze Ausbrüche von Wahnsinn oder Schrecken mischen sich darunter: das Konzert der Geisteskranken.
Sally betritt das Zimmer des ängstlichen Mädchens und setzt sich an das Fußende seines Betts. Das Mädchen zuckt zusammen, richtet sich aber nach einer Sekunde wieder auf. Im Mondschein lässt es ein schüchternes aber warmes Lächeln sehen. Sally nimmt drei Haarsträhnen des Mädchens und beginnt, einen Zopf zu flechten. Hast du heute die Rotkehlchen gesehen? Aber Sally wartet nicht auf die Antwort des Mädchens. Ein weiterer Tag des Versteckens, nicht wahr? Und was ist mit den Rotkehlchen? Sie werden schon tot sein, wenn du diesen Raum verlässt.
Die Schultern des Mädchens spannen sich an, und Sally merkt, dass sie es ihm gleichtut. Sie atmet tief durch und versucht, sich zu beruhigen. Als sie die Haare des ängstlichen Mädchens teilt, erspäht sie winzige, sich windende Kreaturen. Läuse kriechen durch die Haare des Mädchens. Sally zieht ihre Hand zurück und schlägt das Mädchen ins Gesicht. Schmutzig!
Ihre Augen verschließen sich, beide sind sie verwirrt und erschreckt. Tränen laufen über das hilflose Gesicht des ängstlichen Mädchens, das nasse Kinn zittert. Sally macht einen Schritt zurück. Sie überlegt, sich zu entschuldigen, den Stress, unter dem sie stand, zu erklären, doch etwas in ihr weigert sich. Dreckiges Mädchen! Sie stürmt aus dem Zimmer.
ERINNERUNG 913[ | ]
Sally sitzt mit leerem Gesicht neben dem Bett der gebrochenen Frau. Sie findet sich immer öfter dort wieder und hört sich das Geschwätz der Frau an. Die gebrochene Frau zupft an ihren Fesseln, die an einem nicht vernarbten Stück Haut an ihrer Handwurzel fixiert sind. Säuberung gibt es in vielen Formen. Wir müssen alle Opfer bringen. Sie krümmt einen Finger nach innen und schabt an dem sauberen Hautstück, bis es abgerissen ist. Für die grotesken Täter – die genetischen Abscheulichkeiten – müssen wir extreme Maßnahmen ergreifen. Ansonsten bekommt man ... Na ja, die Ergebnisse sind hier überall zu sehen.
Sally sitzt regungslos da, ihre müden Augen sind das einzige Anzeichen dafür, dass sie bei Bewusstsein ist. Die gebrochene Frau spricht, als ob sie beim Tee mit einer Freundin plaudern würde. Wissen Sie, was ich tun könnte? Ich könnte Ihnen die Inhaltsstoffe für meine spezielle Injektion nennen ... Die, die ich bei meinen Patienten verwendet habe. Ein schneller kleiner Stich, und sie winden sich, als ob ein reinigendes Feuer in ihnen brennt. Eine angemessene Art und Weise, mit unmenschlichem Abschaum umzugehen, meinen Sie nicht auch? Hören Sie mich, süße Krankenschwester? Sie müssen nicht mehr ihr Diener sein.
ERINNERUNG 914[ | ]
Sally spürt, wie sich die Anstalt um sie herum zusammenzieht. Geflüster von paranoiden Geisteskranken dringt durch die Ritzen. Sie fragt sich, wie lange sie noch über diesen Flur gehen kann, und sie fragt sich, ob er jemals endet. Sie geht an dem katatonischen Jungen in seinem Rollstuhl vorbei, er starrt tief in die Wände. Dann blickt er in ihre Richtung, seine Augen sehen allerdings durch sie hindurch. Hat die Prüfung begonnen? Er lässt einen Schrei los, hält inne, als ob er sich selbst erschreckt hätte, und lacht dann.
Harvey Kavanagh, der fette Pfleger, kommt aus dem Zimmer einer Patientin und schenkt ihr ein Lächeln. Die Haut an seinem Hals schwabbelt bei seinen Bewegungen und glänzt vor lauter Schweiß. Ein dicker Mantel aus Haaren bedeckt seine Arme und kräuselt sich über dem Kragen seines Hemds. Seine Augen bewegen sich von Sallys Füßen aufwärts und halten an ihren Brüsten inne, bis er merkt, dass sie ihn beobachtet. Sein Blick huscht davon, um den Boden zu untersuchen, während er nervös seinen Mund leckt.
Vor ihm hüpft das verdorbene Mädchen anmutig herum und genießt ihren ersten Tag ohne Restriktionen seit einem Monat. Es summt eine angenehme Melodie und streicht mit seiner Hand über die Wand. Als Sally näher kommt, neigt das Mädchen seinen Kopf nach vorne. Es gibt einen langen, gutturalen Ton von sich und würgt, bis Erbrochenes auf den Boden klatscht. Zufrieden mit sich selbst, lächelt es und hüpft weiter.
Sally geht weiter und denkt nicht daran, die Sauerei aufzuwischen. Sie sieht den schuhlosen Schwachkopf neben der Besenkammer sitzen. Aus seinem Mund trieft dickes Blut. In einem präzisen Rhythmus knallt er sechsmal mit dem Kiefer gegen den Türrahmen, gräbt in seinem Zahnfleisch und zieht einen Zahn heraus. Er schaut Sally an, als wäre sie das merkwürdigste Ding, das er je gesehen hat.
Sally schaut zum Flur hinaus, der sich unendlich weiter erstreckt. Sie bleibt stehen und akzeptiert, was sie zu unterdrücken versucht hat: Noch mehr kann die Krankheit nicht wuchern.
ERINNERUNG 915[ | ]
Sally füllt die Spritze nach Anweisung der gebrochenen Frau. Eine dicke, dunkle Flüssigkeit wirbelt darin herum, ein Nachthimmel ohne Sterne. Die hilflose Angst, die sie bislang gelähmt hat, verschwindet in einem Meer der Ruhe.
Obwohl ihre Absätze bei jedem Schritt klappern, hat sie das Gefühl, zu schweben. Es ist, als ob alles, was sie tun soll, vorbestimmt ist und nur die leiseste Brise nötig ist, um sie vorwärts zu treiben. Sie sieht die Krankheit ganz deutlich. Sie hat alle infiziert. Aber der Schrecklichste ist derjenige, der sich weigert, sich ihr zu stellen – der Hund, der nicht weiß, dass er ein Hund ist. Und so macht sie sich auf den Weg zum Zimmer der gebrochenen Frau.
Seltsam, wie die Frau trotz aller Weisheit blind für ihre Unreinheiten ist. Obwohl sie die Flecken von ihrer Haut entfernt, versäumt sie es, die ungleichen Augen zu beurteilen, die ihr im Spiegel begegnen. Aber Gene lassen sich mit keinem Messer wegschneiden. Ein solcher Fall erfordert extreme Maßnahmen.
Sally nimmt die Spritze und bereitet sich auf das vor, was kommen wird. Es gibt so viel Schmutz in der Anstalt – wenn sie alles säubern will, sollte sie am besten gleich damit beginnen.
Die Suche nach verlorenen Dingen: Logs, Geschichten und Notizen[ | ]
ARCUS 02[ | ]
Ich gehe ein paar alte Kritzeleien und Notizen von ehemaligen und unbekannten Bewohnern durch und begreife, dass ich zumindest versuchen sollte, sie zu sortieren. Beim Lesen der Notizen bemerke ich mehrere Individuen, die ich entsprechend „die Unbekannten“ nenne, und die – wie ich selbst – auf den Entitus fixiert sind. Außerdem besaßen sie wie ich auch die Fähigkeit, die im Nebel verschlüsselten Erinnerungen zu erleben. Ich werde meine bisherigen Notizen hinzufügen und sie so gut ich kann durchnummerieren. Ich werde sie als „Notas Obscura“ bezeichnen, oder einfach nur „Obscura“. Mit ihnen werde ich dann versuchen, herauszufinden, wie lange ich eigentlich schon hier bin. Ich glaube, ich habe meine ersten Notizen gefunden, und zwar unter den halb zerstörten Tagebüchern der unbekannten Bewohner, die mit den fast unbegrenzten Möglichkeiten kämpften, die Zeit totzuschlagen. Darunter fehlten lediglich jene Möglichkeiten, die sie am meisten vermissten. Was ich am meisten vermisse, sind Freundschaft, Gesellschaft, mit meinem Vater ein Glas Whiskey zu trinken und dabei zuzusehen, wie die Uralten über den Nachthimmel gleiten. Oder mit einem Freund ein tiefgründiges Gespräch über die Vorzüge von Kunst, Musik, Gelächter und Geschichten zu führen. Alles, was ich jetzt noch habe, sind die Erinnerungen anderer. Erlebnisse aus zweiter Hand, die mich ständig an das erinnern, was verloren gegangen und selbst in meinem Gedächtnis kaum noch vorhanden ist.
OBSCURA. UNBEKANNTE GEFANGENE.[ | ]
Ich habe in diesem Turm verstreut unzählige Tagebücher von früheren Bewohnern gefunden. „Bewohner“ ist vielleicht nicht der beste Begriff, um sie zu beschreiben. „Gefangene“ wäre passender. Den unterschiedlichen Stimmen nach zu urteilen, sind es acht oder neun, die ich in den vielfältigen Tagebüchern ausmachen konnte. Ich saugte die Tagebücher mit überraschendem Interesse und Eifer in mich auf. Einige dieser unbekannten Gefangenen teilten meine ungewöhnliche Vorliebe für Bier, Whiskey und makabre Geschichten. Andere schienen rasende Verrückte zu sein, die keine Tagebücher, sondern sinnlose Notizen schrieben – Notizen aus dem Absurden nenne ich sie – seltsame Grübeleien und endlose Widersprüche über Orte und Personen, die beobachtet und bewusst oder unbewusst falsch beschrieben wurden. Diese Notizen aus dem Absurden scheinen mit unverständlichem Kauderwelsch zu beginnen, völlig anders als alles, was ich bisher gesehen oder gelesen habe, als ob sie von jemandem geschrieben wurden, der vom Wahnsinn oder einem anderen Motiv getrieben ist, jeden Versuch zu untergraben, dieser Welt einen Sinn zu geben. Zusammen mit den Notizen fand ich in einer dunklen Kammer im Keller Illustrationen und Aussagen von Überlebenden aus Polizeiakten sowie Tausende von Kurzgeschichten. Sie waren aufgestapelt und angezündet worden, aber schnell mit einer Art fauligem, verrottendem Schlamm gelöscht worden. Ich hatte die Kammer geputzt und alle Geschichten in Stapeln aufgestellt, um sie zu einem späteren Zeitpunkt durchzugehen und zu ordnen. Im Augenblick sehe ich keinen Grund, sie von dort zu entfernen, was ich jetzt die Blutkammer nenne.
AUSSAGE DES ÜBERLEBENDEN. SEAN DINT.[ | ]
Ich hörte mir mit meinen Freunden – Adrien, Mia, Tina und Bill – einen Podcast mit Gruselgeschichten an. Ich kann mich nicht erinnern, wer von uns herausgefunden hatte, wie das funktionierte, aber wir hatten erkannt, dass die Geschichten Codes waren, um Koordinaten von Orten weiterzugeben, die für irgendeine Gruppe oder Sekte oder was auch immer von Interesse waren. Wir entschlüsselten noch ein paar andere Geschichten und kamen zu dem Schluss, dass diese Leute verschlüsselte Positionen von Orten schickten, an denen es ihrer Meinung nach Geister geben könnte. Wir glaubten nichts von diesem paranormalen Mist und hatten einfach nur Spaß beim Trinken und Entschlüsseln der Geschichten sowie beim Nachschlagen der Orte auf Satellitenbildern. Doch als sich herausstellte, dass die Koordinaten einer Geschichte ganz in unserer Nähe lagen, dachten wir, wir könnten den Ort ja mal zum Spaß überprüfen. Adrien mietete ein Auto und wir fuhren hinauf zu dem, was von der verfallenen Anstalt übrig war. Dort gab es nur überwucherte Ruinen, sonst nichts. Aber ich erinnere mich an diesen unnatürlichen schwarzen Nebel, und es war, als wären wir in der Anstalt – aber in einer anderen Version davon. Es war wirklich seltsam. Und dann sahen wir dieses Ding ... diesen riesigen Samurai mit Dämonenmaske, der herumlungerte, als wäre er aus einer Welt in eine andere getreten. Zuerst tötete er Mia. Ich weiß nicht mehr, was genau geschah ... Ich sah nur ... Ich sah, wie ihr Kopf aufschlug und über den Boden rollte. Ich erinnere mich nicht an viel ... Ich weiß noch, dass ich aus dem Nebel kroch und der Dämon oder die Erscheinung oder was auch immer das Ding war, mir nicht folgen konnte – als wäre es von etwas Unsichtbarem aufgehalten worden. Nicht lange danach kam ein Mann, der sich Hans nannte und als Ermittler ausgab. Er stellte mir Fragen über das, was ich gesehen hatte, machte sich ein paar Notizen und wirkte irgendwie seltsam. Als er dann die herannahenden Sirenen hörte, machte er sich einfach so davon. Kaum traf die Polizei ein, war der Nebel verschwunden, und zurück blieben nur die ... die ... zerhackten Überreste meiner Freunde. Und jetzt bin ich hier ... Und ihr sagt, dass ihr nicht wisst, wer dieser Ermittler war und dass ihr wollt, dass ich euch zeige, wie man den Code des Podcasts knackt. Aber das kann ich nicht, weil ich es nicht weiß! Das hat meine gute Freundin Tina gemacht, und sie ist in Stücke gehackt worden, ihr Arschlöcher!
NOTIZEN VOM ABSURDEN. KAISER DWIGHT.[ | ]
Ha! Thunfisch-Kaugummi am Dienstag! Der majestätische Sir Dwight tritt mit dicker lila Robe und goldener Krone hinaus auf den Hof und begrüßt die Bauern mit freundlichen Worten und Pizza. Das Kaiserreich jubelt und grölt.
HÖLLENBOTE. AUGEN DES BÖSEN. 1.[ | ]
Haddie Kaur hob ihren Chai-Tee, ließ das dampfende, würzige Elixier aus Kardamom und Zimt ihre Kehle hinunterfließen und stellte ihre Edelstahltasse in dem kleinen Dhaba in der Nähe ihres Heimatdorfes Mohi ab. Der Tee wärmte ihr Inneres, und doch fröstelte sie vor einem namenlosen Schrecken, der sie wie eine formlose Erscheinung verhöhnte, an ihr nagte und sie daran erinnerte, dass nicht alles so war, wie es schien, und dass es namenlose Dinge gab, die in der Nacht ihr Unwesen trieben.
Seit Haddie sich erinnern konnte, hatte sie Dinge jenseits des Schleiers gesehen und gehört, und sie erinnerte sich sogar an den Tag, an dem ihre Eltern im Urlaub verschwunden waren, als sie fünf Jahre alt gewesen war. Sie erinnerte sich an das Flüstern, die herannahende Dunkelheit und das Gefühl, dass sie sich irgendwie in einer anderen Realität befanden. Sie erinnerte sich nicht an viel aus dieser Zeit, aber sie erinnerte sich daran, dass sie von ihren französisch-kanadischen Paten, den Rois, aufgenommen wurde, die sie zusammen mit ihrem Sohn Jordan aufzogen.
Nun waren Haddie und ihr älterer Stiefbruder Jordan in Indien, um mit ihrem Onkel Stefan eine Folge für ihre recht erfolgreiche Web-Serie „Der Höllenbote“ zu drehen. Ein Fan hatte sie aufgesucht, nachdem er eine ihrer Folgen über die interdimensionalen Überschneidungen gesehen hatte, die Haddie spüren, fühlen und sogar erforschen konnte, wenn ihr Fokus richtig war und sie in der Lage war, sich „einzustimmen“. So beschrieb sie den Vorgang zumindest oft.
Zu ihrem Glück hatte dieser mysteriöse Wohltäter eine Expedition durch die ganze Welt finanziert, und ihrem Bruder und Onkel auf diese Weise Zugang zu unzähligen abgelegenen und geheimen Gebieten mit bekannter paranormaler Aktivität und unerklärlichem Verschwinden verschafft.
Haddie nippte an ihrem Tee und hörte den Dorfbewohnern zu, die eine Sprache sprachen, die sie an ihren verschwundenen Vater erinnerte. Und plötzlich hörte sie eine vertraute Stimme mit Quebecois-Akzent, die sich von den anderen abhob und ihren Namen rief.
Einen Moment später betraten Stefan und Jordan das Dhaba. „Ich habe den Ort des Massakers gefunden“, sagte Stefan. „Trink deinen Tee aus, und dann lass uns verschwinden!“
Haddie sprang auf und folgte ihrem Onkel und Bruder in den sengend heißen Tag.
HÖLLENBOTE. AUGEN DES BÖSEN. 2.[ | ]
„Die Schurken waren im Tal in der Nähe der Ruinen der alten Signalfestung in einen Hinterhalt geraten“, sagte ein Mann mit Turban und Bart. „Ich bin mir nicht sicher, was ihr hier zu finden hofft. Die meisten meiden diesen Ort wie die Pest.“ Er starrte die älteren Teenager an, als wären sie verrückt. „Ihr hättet ins Hotel zurückkehren sollen, wie euer Onkel. Hier gibt es nichts, außer den Augen. Und die beobachten uns wahrscheinlich gerade.“
Haddie und Jordan antworteten nicht und wollten auch nicht erklären, dass ihr Onkel keinen Bock auf Abenteuer hatte, dass er eher ein Produzent war und versuchte, einen Horror-Roman fertigzustellen, an dem er seit zehn Jahren arbeitete. Haddie ignorierte das nervöse Geschwafel des Führers und untersuchte die weißen Steinziegel der Festungsruine sowie die umliegenden Höhlen mit dem seltsamen Gefühl, beobachtet zu werden.
Der Führer sagte: „Die offizielle Geschichte besagt, dass eine Einheit britischer Soldaten hier im Kampf gegen eine Bande von Räubern starb.“
„Und die inoffizielle Geschichte?“ Haddie drehte sich zu ihm um. Der Führer starrte sie einen langen Moment lang an. „Die inoffizielle Geschichte ist, dass sie ihre Gewehre und Schwerter gegeneinander gerichtet haben. Irgendetwas in diesen Höhlen hat sie in den Wahnsinn getrieben.“
Haddie nahm dies in sich auf und schloss die Augen, während Jordan die Ruinen und Höhlen filmte. Während sie ihr Herz beruhigte und ihren Verstand zum Schweigen brachte, hörte sie die aufsteigenden Schreie und das Klagen von Menschen, die abgeschlachtet wurden. Als sie die Augen wieder öffnete, konnte sie die schillernden orangefarbenen Erinnerungsreste der britischen Soldaten sehen, die räuberische Rebellen niedermetzelten.
Ein Räuber schien etwas Wichtiges in seinen Händen zu halten, als er dem Massaker entkam. Sie ging durch die verbliebenen Erinnerungen und näherte sich dem Mann und starrte auf ein Stück abgebrochener Säule in seiner Hand. Der Räuber kletterte verzweifelt über die Felsen und Trümmer und stürmte in eine nahegelegene Höhle, während die Soldaten ihm dicht auf den Fersen waren.
Jordan kam hinter ihr her. „Hast du etwas gesehen?“
Haddie nickte und zeigte auf die Höhle, in die der Mann hineingelaufen war.
Der Führer hob die Augenbrauen. „Das ist der Punkt, an dem ich besser gehe“, sagte er und wandte sich von den Geschwistern ab. „Nicht, dass ich euch beide für verrückt halte – was ich aber eigentlich sehr wohl tue –, aber ich muss nach Hause, bevor meine Frau merkt, dass ich weg bin. Ich bin heute dran, Fladenbrote zu backen und die Kinder von der Schule abzuholen.“
Haddie und Jordan sahen zu, wie der Führer in das felsige, sonnenbeschienene Tal verschwand. Dann drehten sie sich um und näherten sich dem klaffenden Schlund der Höhle. Für einen langen Moment starrten sie in die Dunkelheit, ohne ein Wort zu sagen. Jordan schaltete die Taschenlampe seines Handys ein, und gerade als sie sich darauf vorbereiteten, einzutreten, hörten sie das Knirschen von Stein hinter sich. Bruder und Schwester drehten sich langsam um und blickten in den Lauf eines Gewehrs.
HÖLLENBOTE. AUGEN DES BÖSEN. 3.[ | ]
Drei Männer, die eine uralte, unbekannte Sprache sprachen, drängten Haddie und Jordan durch die dunkle und scheinbar endlose Höhle. Ihre flackernden Taschenlampen beleuchteten den Weg. Irgendwie wussten diese Entführer, dass Haddie eine Gabe hatte und bellten ihr in gebrochenem Englisch den Befehl zu, sie zu dem Ort zu führen, an dem der Rebell das Relikt versteckt hatte. Sie kannte ihre Entführer nicht, aber es war nicht das erste Mal, dass jemand sie zwang, etwas mit ihren besonderen Fähigkeiten zu finden.
Haddie folgte einer Spur von Erinnerungsresten – Erinnerungen und geflüsterte Worte, die nur sie sehen und hören konnte. Sie konnte spüren, dass sie durch eine „Überschneidung“ von Realitäten gingen, die ihre Fähigkeiten auf unerklärliche Weise verstärkte. Sie folgte der schillernden orangefarbenen Spur und erstarrte, als die restlichen Soldaten plötzlich verschwanden. Dann zuckte sie zusammen, als die Soldaten wieder aufblinkten und sie verzweifelte Schreie hörte, als sie von etwas angegriffen wurde, das sie nicht ausmachen konnte.
„Was ist los?“, fragte einer ihrer Entführer.
„Sie sieht etwas“, sagte Jordan. „Lasst sie ihr Ding machen.“
„Wehe, das ist ein Trick!“
Haddie sah zu, wie die unerkennbare Kreatur die Soldaten in ein wüstes Durcheinander aus Fleisch und Blut zerfetzte. Dann schnappte sich die Kreatur den Räuber und schleppte ihn schreiend durch eine Reihe von miteinander verbundenen Tunneln. Sie jagte der verblassenden Erinnerung hinterher und betrat eine kleine Höhle, als sie beobachtete, wie der Räuber das Relikt losließ, während die Kreatur ihn in einen kleineren Tunnel zerrte, von dem sie annahm, dass er zu einer Futterhöhle führte.
Die Erinnerungen verblassten wie sterbende Glut und gaben den Blick auf eine Höhle voller menschlicher Knochen frei, die über einem dicken Verwesungsschlamm aufgeschichtet waren. Sie zuckte bei dem Gestank von verrottenden Organen und Flüssigkeiten zusammen und wedelte eine Wolke von Fliegen vor ihrem Gesicht weg. Neben einem Knochenhaufen lag eine Leiche, noch warm, von Kopf bis Fuß gehäutet, die Augen fehlten, der Mund war zu einem qualvollen Schrei erstarrt. Die Entführer starrten die Leiche einen langen Moment lang an, bis einer mit dem Lauf seines Gewehrs auf Haddie einstach.
„Wer zum Teufel hat das getan?“, murmelte einer ihrer Entführer ungläubig.
„Hier muss es eine Krümmung der Realität geben“, bot ein anderer Gefangener als Erklärung an. Haddie bemerkte, dass diese Männer das, was sie eine „Überschneidung“ nannte, als „Krümmung“ bezeichneten. Es war klar, dass sie ein Verständnis für andere Dimensionen hatten und dass dieses Stück Säule irgendwie mehr war als nur ein Relikt.
„Wo ist es?“, drängte der Anführer Haddie. „Wo ist das Relikt!“
Haddie brauchte einen Moment, dann zeigte sie auf einen Haufen Knochen. „Aber es könnte auch da drin sein ...“ Sie deutete auf den Tunnel, der zur Futterhöhle führte.
„Überprüft die Knochen“, befahl ein Entführer den Geschwistern.
Jordan und Haddie knieten sich in den klebrigen Schlamm und durchwühlten die Knochen, während der Anführer sich dem schattigen Tunnel zuwandte. Er näherte sich der Öffnung und ließ einen Lichtstrahl hineinblitzen. Während die beiden anderen Entführer mit Fliegen zu tun hatten und sich die Nasen zuhielten, fand Haddie das abgebrochene Stück Säule und schob es heimlich zu Jordan hinüber.
Ein plötzliches Zähneklappern und Zischen ließ sie sich alle zum Anführer umdrehen. Er suchte die Dunkelheit mit einem Lichtstrahl ab, der plötzlich eine groteske Kreatur mit einem Gesicht zeigte, das von Dutzenden, wenn nicht Hunderten von glühend roten Augen bedeckt war.
Der Anführer richtete den Strahl erneut auf das Gesicht, als die Kreatur zischte und ein mit nadelartigen Zähnen gefülltes Maul offenbarte. Einen Augenblick später packte die Kreatur die Taschenlampe und zog den Anführer ins Innere der Höhle.
Die anderen Entführer stolperten, ließen Dinge fallen und feuerten dümmlich in die Dunkelheit. Haddie schnappte sich sofort eine heruntergefallene Taschenlampe, sah ihren Bruder mit großen, verzweifelten Augen an und schrie ihm zu:
„LAUF!“
HÖLLENBOTE. AUGEN DES BÖSEN. 4.[ | ]
Jordan und Haddie stürmten durch die Höhle, während die Schreie der sterbenden Entführer durch das Innere des Berges hallten. „Was war das für ein Ding?“
„Ich habe es nicht gut sehen können, und ich will es auch gar nicht!“ schrie Haddie. Dann konnte sie das Sonnenlicht vor sich sehen, spürte aber, dass sie es nicht schaffen würden. „Lauf weiter!“, schrie sie und drehte sich um, um sich der Dunkelheit zu stellen – nur mit einer Taschenlampe bewaffnet.
Das Zischen und Bröckeln verhallte. Sie hatte keine Ahnung, was sie als Nächstes tun sollte, verengte ihren Blick und wartete. Plötzlich klapperten die Zähne und hundert rote Augen bohrten ihre Blicke in sie.
Haddie wich zurück und fiel neben einem Skelett zu Boden, das in der einen Hand einen Kurki und in der anderen einen Revolver hielt. Sofort riss sie ihm die Waffen aus den knochigen Händen und richtete sich auf zitternden Füßen auf.
Die Kreatur kam langsam näher, zischend und schnatternd, die schrecklichen Augen auf sie fixiert. Sie starrte auf lange Arme und Finger mit Klauen wie Messern. Sie hob ihren Arm und richtete den Revolver auf seinen Kopf. Dann drückte sie ab und ...
nichts passierte.
Hundert Augen starrten auf den Revolver, dann wieder auf sie.
„Scheiße!“
Die Kreatur zischte und griff mit einem Brüllen an. Haddie wich aus. Schreckliche Klauen zischten über ihren Kopf hinweg und trafen die Wand. Felsbrocken regneten auf sie nieder.
Von Schutt bedeckt, sprang sie auf und rannte los. Die Kreatur folgte ihr. Sie drehte sich im aufgewirbelten Staub um und spürte instinktiv den Angriff, bevor er kam – so, wie sie es oft tat. Mit einem schnellen Stoß ihres Arms durchtrennte die Klinge des Kurki die Hand. Die Kreatur kreischte schreckenerregend.
Haddie ergriff die Gelegenheit, heftig auf den Kopf einzustechen, aber die Kreatur duckte sich weg, und die Klinge schlug gegen die Steinwand. Das Kurki sprang aus ihrer Hand, und sie ließ sich zu Boden fallen, als die Kreatur angriff.
Haddie stolperte davon und tastete instinktiv nach einer Steinplatte. Die Kreatur attackierte sie erneut, verfehlte sie aber und schlug gegen die Wand. Ohne zu zögern schlug Haddie die Steinplatte auf den verwirrten Kopf. Ein schreckliches knirschendes Geräusch ertönte, das sie nicht so schnell vergessen würde.
Die Kreatur brach zusammen, und Haddie schlug voller Adrenalin auf den Kopf und die Augen ein. Als nur noch ein klebriger, warmer Brei übrig war, ließ sie den mit Blut überzogenen Stein los und ließ sich auf ihren Hintern fallen, um sich zu sammeln. Aber kaum hatte sie sich entspannt, hörte sie das ansteigende Crescendo von klappernden Zähnen, das durch die Dunkelheit hallte.
Mit einem Seufzer richtete Haddie sich wieder auf. Pure Angst schoss ihr durch den Kopf, als das Klappern und Zischen immer lauter und lauter wurde. Sie biss die Zähne zusammen, als Tausende von roten Augen in der tiefen Schwärze der Höhle aufflackerten. Sie wich langsam zurück, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und rannte los!
HÖLLENBOTE. AUGEN DES BÖSEN. 5.[ | ]
Haddie stürmte auf den Höhleneingang zu, mit Millionen Augen und klappernden Zähnen hinter ihr. Sie spürte die Hiebe auf ihrem Rücken, aber sie wankte nicht. Sie sprang wild aus dem Höhlenschlund – gerade als sich eine Kreatur auf sie stürzte. Haddie purzelte aus der Höhle, als die Kreatur auf eine unsichtbare Barriere traf, wo die Überschneidung der Dimensionen endete. Sie drehte sich um und sah, wie sich der dunkle Höhleneingang mit stechenden roten Augen füllte.
Jordan kam zu ihr. „Höllen-Haddie hat es mal wieder geschafft“, sagte er lachend.
Haddie warf ihrem Bruder einen bösen Blick zu. „Nenn mich nicht so“, sagte sie knapp. Auch wenn er es nicht böse gemeint hatte, war es ein Name, den die Kinder im Zusammenhang mit dem „Höllenboten“ zu nennen pflegten, weil Pech, seltsame Dinge und unerklärliche Unfälle sie zu verfolgen schienen. Jahrelange Therapie hatte ihr den Mut gegeben, ihre Fähigkeiten zu akzeptieren und ihre Serie mutig den Höllenboten zu nennen.
Erschöpft saß Haddie auf einem von der Sonne gewärmten Stein und beobachtete, wie die roten Augen langsam in der Düsternis der Höhle verschwanden. „Hast du die Kreatur mit deiner Hemdkamera eingefangen?“
Jordan schüttelte den Kopf, als er sich neben sie setzte. Sie glaubte nicht, dass das klappen würde, da Kreaturen oder Relikte aus anderen Welten nicht aufgenommen wurden und oft Unschärfen oder Störungen hinterließen.
Jordan seufzte und reichte ihr das Relikt, das sie geborgen hatten. „Was hältst du davon?“
Haddie hielt es in der Hand und spürte großes Elend. Vor ihrem geistigen Auge sah sie verhüllte Gestalten, die Teile derselben Säule in einer anderen Welt versteckten. Sie zuckte mit den Schultern und behielt für sich, was sie gesehen hatte. Dann holte sie ihr Handy heraus und reichte es Jordan. Er zentrierte sie im Bild und zeigte an, dass er filmte.
Haddie räusperte sich, wischte sich Schweiß und Ruß von der Stirn, schaute in die Linse und wandte sich an ihre Online-Follower:
„Mein Name ist Haddie und ich wurde mit einem wunderbaren Fluch geboren. Mein ganzes Leben lang habe ich seltsame und ungewöhnliche Dinge angezogen, und als ich zwölf war, wurde mir klar, dass ich in der Lage bin, Einblick in unerklärliche Ereignisse und jenseitige Orte zu bekommen.“
Sie nahm sich einen Moment Zeit, um ihr rasendes Herz zu beruhigen. Sie schluckte ihre Angst hinunter, erinnerte sich daran, dass sie eine Serie zu verkaufen hatte, und zwang Energie und Schwung in ihre Stimme. „Was muss man über Indien wissen? Es ist das Land, in dem mein Vater aufgewachsen ist, und es ist das Land, in dem ich heute bin, um die urbanen Legenden dieser erstaunlichen Kultur zu erforschen.“
Haddie brauchte einen Moment, um ihre Worte zu finden.
„Unser Abenteuer beginnt in Nordindien an einem seltsamen Ort, den die Einheimischen ‚Die Augen‘ oder ‚Tal der bösen Augen‘ nennen, wo Hunderte verschwunden oder gestorben sind, darunter auch eine Einheit britischer Soldaten in den 1800er Jahren. Was geschah mit diesen Soldaten? Wohin sind sie verschwunden? Und ist an den Berichten über einen in einer Höhle lebenden Dämon mit Augen am Kopf, deren Blicke sich durch die Seele bohren, etwas dran?“
Haddie starrte nachdenklich in die Kamera und wollte jede ihrer Fragen mit „Ja“ beantworten, entschied aber, dass es besser war, sie der Interpretation zu überlassen. Nach einer dramatischen Pause beendete sie: „Schaut euch an, was wir entdeckt haben. Bewertet die Entdeckungen selbst ... und seht, ob an den Bösen Augen des Himalaya etwas dran ist.
Foliant VI - Abweichung führte Herausforderungen mit roten Glyphen ein.
Wird eine solche Herausforderung ausgewählt erscheint eine rote Glyphe in der Prüfung mit welcher der entsprechende Überlebende oder Killer kommunizieren muss um Fortschritt in dieser Herausforderung zu erzielen.
Kurzfilme[ | ]
Yui Kimura: Gescheitert
Sally Smithson: Die Säuberung von Crotus Prenn
Die Suche nach verlorenen Dingen
Belohnungen[ | ]
Durch das Abschließen der entsprechenden Aufgaben der vier Stufen im Foliant erhält der Spieler folgende Glücksbringer:
Bild
Name
Beschreibung
Stufe
Turm der Verdammten
Das Fundament eines geheimnisvollen Turms.
STUFE I
Turm der Aufständischen
Ein halb gebauter Turm, in dessen kalten Mauern Geheimnisse verborgen sind.
STUFE II
Turm der Starken
Ein rätselhafter Turm, der aus der kahlen Landschaft herausragt.
STUFE III
Turm des Beobachter
Ein Turm, der vor ungebändigten Möglichkeiten zu platzen scheint.