Spiele nicht mit Mächten, die du nicht verstehst. Lisas Großmutter schimpft mit ihr, weil sie auf gut Glück ein Symbol in ihr Lehrbuch geritzt hat. Lisa entschuldigt sich dafür, dass sie in ihren Sachen geschnüffelt hat. Sie wollte doch nur mehr über die alte Stadt und die Geschichten über Hexen und Kannibalen erfahren, die dort bei lebendigem Leibe verbrannt oder verjagt wurden. Sie hat ihre Mutter sagen hören, dass ihre Großmutter mehrere Bücher gefunden hat, die in einer unbekannten Sprache geschrieben und mit seltsamen Symbolen illustriert sind. Ihre Großmutter warnt sie. Sie soll sich bloß von den Büchern fernhalten. Das kann großes Unglück über dich und andere bringen. Lisa würde am liebsten laut loslachen, tut es aber nicht. Sie hat nur herumgealbert und glaubt nicht wirklich an all diesen abergläubischen Unsinn. Es gibt keine Hexen und Kannibalen, Oma. Ich brauchte nur ein bisschen Glück für meinen Algebra-Test. Nichts für ungut, war nicht böse gemeint. Ihre Großmutter sagt ihr, dass das Symbol, das sie gezeichnet hat, genau jenes ist, das sie vor langer Zeit genutzt hatte, um einen Kannibalen in einen knorrigen und krummen Sumpfbaum zu verwandeln, der mit einem faulen, schwarzen Schlamm bedeckt ist. Das ist so lächerlich, dass Lisa laut loslachen will, aber sie reißt sich zusammen, während sie der Geschichte von Kannibalen und vermissten Kindern zuhört. Als ihre Großmutter mit dem Erzählen endlich fertig ist, umarmt Lisa sie und gibt ihr einen sanften Kuss auf die weiche, runzelige Stirn. Keine Sorge, Oma ... Ich werde mich nicht in einen Sumpfbaum verwandeln oder von Kannibalen entführt werden.
ERINNERUNG 1703[]
Lisa weiß nicht, ob das Symbol auf ihrem Buch eine Art Placeboeffekt hat, ... aber ihre Mathenoten werden besser. Nicht so viel, wie sie sollten, aber immerhin ... Sie besteht, und Bestehen ist eine Verbesserung. Ihre Freundin Pam sagt, das sei alles Quatsch. Es gäbe keine Glückssymbole, die deine Note verbessern können. Das sei alles nur Blendwerk. Haltloser, uralter Aberglaube. Pam scherzt, dass sie auch gerne bessere Noten hätte. Sie schnappt sich Lisas Lehrbuch und malt das Symbol mehrmals in ihren Stundenplan ab. Lisa verspürt ein ungutes Gefühl in der Magengegend und sieht sich das Symbol besorgt an. Das solltest du wirklich nicht tun. Sie entreißt Pam ihr Lehrbuch. Spiele nicht mit Mächten, die du nicht verstehst. Pam lacht. Was hast du für ein Problem, Lisa? Wenn diese Dinger dir helfen, in Mathe zu bestehen, können sie mir auch helfen, in Englisch zu bestehen. Ist doch keine große Sache.
ERINNERUNG 1704[]
Pam bittet um ein weiteres Symbol oder einen anderen Glücksbringer für einen Test, auf den sie nicht vorbereitet ist, bei einem Lehrer, den sie hasst. Ein Lehrer, der sie verspottet. Er sei ein übergewichtiger, Pillen lutschender Langweiler. Lisa weigert sich, die Idee überhaupt in Erwägung zu ziehen und sagt ihr, dass sie sich das geheime Buch ihrer Großmutter nicht ansehen darf, geschweige denn seine Inhalte an Fremde weitergeben. Pam zuckt die Schultern und kratzt weiter mit einem Zahnstocher ein Symbol auf ihren Arm. Sie fragt, ob Lisa gehört habe, was der Frau neben der Schule zugestoßen sei. Lisa schüttelt den Kopf. Pam lacht, während sie mit dem Zahnstocher ihr Blut verstreicht. Die blöde Kuh ging lesend über die Straße, und zack! Zermatscht von einem Laster! Echt! Sie schnippt den Zahnstocher auf den Boden, greift nach Lisas Handgelenk und führt sie zu einer Straße ein paar Blocks entfernt von der Schule. Lisa bedeckt ihre Nase und kann die verwesenden menschlichen Flüssigkeiten in den Ritzen des Straßenbelags riechen. Pam deutet auf Blutspuren und Haarbüschel auf der Straße und macht Witze auf Kosten der toten Frau. Lisa fasst sie wütend am Handgelenk. Du darfst dich nicht über die Toten lustig machen. Pam zieht ihren Arm wieder zurück. Lass dieses unheimliche Gerede, Lisa. Sie ist ja nicht mehr hier, kann sich also auch nicht angegriffen fühlen ... Abgesehen davon, haben mir deine Symbole auf verschiedenste Art Glück gebracht. Lisa starrt voller Sorge auf Pams Arm und hofft, dass die Seele der toten Frau sich nicht beleidigt fühlt. Ihre Großmutter sagt, dass die Seelen manchmal noch verweilen. Insbesondere, wenn sie nicht tot sein wollen. Eine dunkle Kraft, die sie ihr restliches Leben lang verfolgt, ist das Letzte, was sie gebrauchen kann.
ERINNERUNG 1705[]
Pams Englischlehrer ist aus unbekannten Gründen verstorben, was Pam vor Freude tanzen lässt. Sie ist erleichtert, dass sie keinen dummen Test über irgendeinen unwichtigen toten Autor mehr schreiben muss. Es ist mir egal, was Englischlehrer sagen, James ist unlesbar und verwirrend. Ein Pseudo-Intellektueller, der alles ganz vage gehalten hat, weil er eigentlich keine Ahnung hatte, wovon zum Teufel er da schreibt. Lisa zuckt mit den Schultern, sieht das anders, will sich mit ihrer Freundin aber nicht streiten. Mit ihrer nervigen Freundin. Sie mag seine Bücher, die Art und Weise, wie sein Stil es ihr ermöglicht, für eine Weile im Kopf seiner Hauptfigur zu leben. Sie findet, dass sein Roman über einen Künstler eine spaßige, formlose und traumartige Suppe mit viel Stil und Substanz ist. Aber was weiß sie schon, sie ist erst sechzehn, und ihre Englischnoten sind unterdurchschnittlich. Pam johlt und gröhlt, und mit einem boshaften Lächeln enthüllt sie eine Hand, die mit lauter Tintensymbolen vollgeschmiert ist. Alles Glück der Welt! Kein Test! Kein Fettarsch! Das ganze restliche Jahr keine toten Autoren! Danke, Lisa! Lisa starrt die Symbole auf der Hand an und will Pam anschreien, weil sie so gedankenlos mit Dingen umgeht, die sie beide nicht ganz verstehen. Sie schließt ihre Augen und hofft, dass der Englischlehrer auch tot sein will und nicht noch irgendwo herumlungert.
ERINNERUNG 1706[]
Die Klasse ist aus Respekt vor ihrem geliebten Englischlehrer bei der Beerdigung. Die Sargträger haben mit dem Gewicht des Sargs sehr zu kämpfen. Pam beugt sich zu Lisa vor und flüstert, was sie für ein Glück hat und was die armen Sargträger, die so einen schweren Sarg tragen müssen, für ein Pech haben. Stell dir vor, wir müssten den Fettarsch zu seinem Grab tragen. Lisa stupst Pam an und sagt ihr, sie soll damit aufhören. Als die Sargträger sich ihnen nähern, hat sie plötzlich ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Ein Instinkt sagt ihr, dass sie auf Abstand zu ihrer Freundin gehen soll. Das Bild eines Blitzes, der Pam erschlägt, zuckt ihr durch den Kopf. Sie fragt sich, ob eine wütende Seele so etwas bewirken kann. Jeder Muskel, jedes Organ, jede Ader gefriert für einen Augenblick wegen dieser Unverschämtheit. Pam reißt Lisa mit einem weiteren taktlosen Kommentar aus ihren Gedanken. Lisa hört in ihrem Kopf die Stimme ihrer Großmutter sagen, dass ihre Freundin das Schicksal herausgefordert hat, indem sie über das Unglück eines anderen gelacht hat. Weil sie über die Toten gelacht hat. Der Aberglaube ihrer Großmutter ist nicht wirklich etwas, woran sie glauben mag, ... und doch entfernt sie sich von ihrer Freundin und blickt zu den Wolken hoch, die sich verfinstern. Sie wartet auf den Blitz, der Pam erschlagen wird.
Ace Visconti: Kaputt machen[]
ERINNERUNG 2478[]
Ace eilt in die „Uh, Ohs Sportbar“ und ist noch voller Adrenalin von der Titelverteidigung in Mixed Martial Arts, die er gerade gesehen hat. Leichtgewicht-MMA-Meisterin Mika James hat die Herausforderin in der ersten Runde k.o. geschlagen. Und jetzt ist Ace bereit für den nächsten Nervenkitzel. Er setzt sich neben seinen Kumpel Wallace. Hab ich irgendwas verpasst? Wallace schüttelt den Kopf. Ne ... Sie bereiten jetzt die Schale vor. Ace lacht laut auf. Der Typ wird versuchen, eine Schale Schnecken zu schlucken. Solch lächerliche Wetten gibt es auch nur im Uh, Ohs. Wallace stupst Ace an und gibt einen Tipp ab. Zehn zu eins, dass er sie wieder ausspuckt. Ace sieht sich den Idioten und die Schale voller lebender Schnecken vor ihm an. Seine Instinkte sagen ihm, dass der Typ das wirklich bringen wird. Ace hat Wallace gerade erst bei dem MMA-Kampf abgezockt und hätte nichts dagegen, ihm noch mehr Geld abzuknöpfen. Ace mustert den Idioten, um sicherzustellen, dass sein Bauchgefühl ihn nicht täuscht. Die meisten Leute würden kotzen, wenn sie versuchten, auch nur eine Schnecke zu verschlucken. Aber nicht dieser Typ. Der weiß, was er macht. Er ist ein Siegerpferd. Eine sichere Sache. Also gut, ... verdoppeln wir unseren letzten Wetteinsatz.
Wallace nickt und versichert ihm, dass er verlieren wird. Ace grinst. Das werden wir noch sehen. Als er an dem Idioten vorbei schaut, der sich auf das Schlucken der Schnecken vorbereitet, ist er erstaunt, Mika James in ihrem Trainingsanzug an der Bar zu sehen. Sie wechseln einen Blick. Er deutet auf sein Fan-Shirt und reckt den Daumen für eine großartige Titelverteidigung nach oben. Aber sie blickt an ihm vorbei, während sie an einem Bier schlürft. Wallace sieht Mika und stupst Ace an. Sie könnte in null Komma nichts Kleinholz aus dir machen. Ace höhnt. Die Wette würdest du verlieren, Arschloch. Ich bin doppelt so groß und so stark wie sie. Wallace kichert. Ich sage, du hältst keine zehn Minuten durch ... Ne ... Nicht einmal fünf Minuten. Wallace labert Scheiße, nur um Scheiße zu labern. Bevor Ace antworten kann, ertönt eine Glocke, und alle werden still, während der Idiot die Schale voller dicker, feuchter Schnecken an seine zitternden Lippen hebt. Ace hält den Atem an, zieht die Augenbrauen zusammen, zieht seinen Glücks-Alligatorzahn hervor, hält ihn in seiner Faust und weiß genau, dass er gewinnen wird. In nur wenigen Minuten wird er auf dem Weg zur Bank laut lachen. Komm schon, Idiot, ... schluck die Schnecken.
ERINNERUNG 2479[]
Ace versteht nicht, was passiert ist. Er hatte Wallace doch schon an der Wand. Sein Siegerpferd hat die Schnecken eine nach der anderen siegessicher heruntergeschluckt, als ob er gerade eine Schale mit frischem Sushi genießen würde. Dann hielt er inne, während die letzte Schnecke aus seinem Mund baumelte ... Übermütiger kleiner Scheißer ... Er lächelt und schluckt ... Aber die verdammte Schnecke geht nicht runter ... Nicht wie geplant. Ace kann sehen, wie sich ein dicker Klumpen seinen Hals hinunter bahnt. Er gleitet nach unten ... Aber die Schnecke muss seinen Würgereflex oder so ausgelöst haben, denn schlagartig vergeht ihm das Lächeln. Dann Stille. Der Idiot beginnt, sich unruhig auf seinem Stuhl zu winden. Das Publikum sagt ... „Uhh-ohh“ ... und plötzlich ... kommt ein Projektil aus Schneckenschleim aus seinem Mund geschossen. Ace lässt seinen Kopf hängen, weil er begreift, dass er gerade alles verloren hat.
Wallace lacht laut auf und klopft ihm auf den Rücken. Hab ich doch gesagt. Ace sagt gar nichts. Weißt du was? ... Doppelt oder nichts, wenn du fünf Minuten gegen Mika James durchhältst. Ace blickt zu Wallace auf. Und was springt für dich dabei raus? Wallace zieht die Augenbrauen zusammen. Deinen Glücks-Alligatorzahn. Ace zögert. Wallace lächelt. Was denn? Ich dachte, du wärst doppelt so groß und so stark wie sie? Ace blickt zu Mika hinüber, zu Wallace, wieder zu Mika. Und nickt. Ich werde sie in zwei Minuten k.o. schlagen und sie dann auf einen Drink einladen. Wallace lächelt, steht auf und geht zum Manager des Clubs, um alles zu arrangieren. Ace steht auf und denkt sich, dass er sich dann auch selbst der Meisterin vorstellen kann.
ERINNERUNG 2480[]
Was zum Teufel hab ich mir dabei gedacht? Ace wankt auf seinen weichen Knien. Ach ja, ... gar nichts! Mika macht einen Schritt auf ihn zu. Er lässt eine verzweifelte Rechte nach vorne fliegen. Mit einem Grinsen im Gesicht duckt sie sich weg. Er lässt eine Linke folgen. Sie macht einen Schritt zur Seite und ihm wird schwarz vor Augen. Er sieht ein paar Sterne aufblitzen und verschwinden. Womit zum Teufel hat sie mich getroffen? Er weiß es nicht. Alles, was er weiß, ist, dass er wieder auf seinem Hintern sitzt und seine Augenlider schwer wie Blei sind. Mit aller Macht öffnet er sie und schaut auf die Uhr. Dreißig Sekunden. Wie können das nur dreißig Sekunden gewesen sein?! Entweder ist die Uhr manipuliert oder die Zeit selbst hat sich zu einem unmöglichen Kriechen verlangsamt. Scheiße! Ich stecke in der Klemme, aber meinen Glücks-Alligatorzahn werde ich nicht verlieren! Er weiß im Moment nicht viel. Nur, dass Mika ihn in jeder Hinsicht deklassiert hat – außer in Sachen Mut und Glück. Ace stellt sich auf seine wackligen Beine und lächelt eine der Dutzend Mikas an, die um ihn herumwirbeln. Er bemerkt ein Dutzend Uhren, zieht die Augenbrauen zusammen und rechnet. Noch vier Minuten ... Das krieg ich hin ...
ERINNERUNG 2481[]
Das Publikum johlt und gröhlt. Kämpft! Kämpft! Kämpft! Ace starrt auf die Uhr und ist erleichtert, dass sie die Zwei-Minuten-Marke überschritten hat. Nur drei Minuten übrig. Er will einfach nur noch durchhalten und hat die Idee, Mika auszuknocken, komplett aufgegeben. Er kann von Glück reden, wenn er auch nur einen Treffer landet. Er denkt, er könnte sie vielleicht an den Haaren festhalten und direkt unter der Gürtellinie zuschlagen, um sie auf Abstand zu bringen. Aber sie bewegt sich schneller, als seine Blicke es verfolgen können, und er ist überzeugt davon, dass seine Füße sich in Spaghetti verwandeln. Sie blickt ihn an wie ein hungriger Tiger und lässt einen Roundhouse-Kick folgen. Er duckt sich. Lacht, als ihre Hand über seinen Kopf streicht und ihr böses Knie in seinem Gesicht landet. Ihm wird schwarz vor Augen. Einen Moment später liegt er auf dem Boden in einer Wolke aus Sternen, während das Publikum ihn einstimmig anzählt. Bei fünf steht er wieder – mit einer dicken Lippe und einem armseligen Lächeln.
ERINNERUNG 2482[]
Minuten kommen ihm nicht wie Minuten vor. Sondern wie Stunden, ... Tage ... Drei Minuten, und Ace will das Handtuch werfen, aber sein Stolz lässt das nicht zu. Sein gesunder Menschenverstand sagt ihm, dass er aufhören soll, bevor sie ihm noch eine Rippe bricht. Er hat den Eindruck, dass er nicht lachend zur Bank, sondern zum Krankenhaus geht. Aber er kann nicht aufgeben. Er wird nicht aufgeben, und er wird definitiv nicht seine Wette verlieren. Er wird gewinnen, auch wenn das seinen Tod bedeutet. Für einen kurzen Augenblick erinnert er sich halbwegs an ein Zitat darüber, wie man mit einem hübschen Mädchen auf einem Herd sitzt oder wie ein hübsches Mädchen am Herd kocht oder so. Irgendetwas mit einem hübschen Mädchen und einem Herd. Er kriegt es nicht zusammen, weiß aber, dass es irgendetwas mit Zeit zu tun hat. Mika lässt eine Faust in sein geschwollenes Gesicht krachen. Er stolpert rückwärts und fällt fast hin. Er schafft es, das Gleichgewicht zu halten, und versucht, zu lächeln. Aber kaum gehen seine Lippen auseinander, findet er sich irgendwie auf dem harten Boden wieder und blickt auf ein Publikum, das meilenweit entfernt zu sein scheint und lacht, während es ihn einstimmig anzählt. Er rollt auf seinen Bauch und stemmt sich hoch, angeschlagen und mit Knien aus Spaghetti. Da ist schon mehr nötig, um mich am Boden zu halten.
ERINNERUNG 2483[]
Zwei Rechte auf eine Nase, die bereits gebrochen ist. Sie will ganz klar nicht verlieren. Sie will ihn ausknocken, aber das wird nicht passieren. Ace wird es nicht zulassen. Deklassiert in jeder Hinsicht, außer Mut, klettert er wieder auf seine Füße. Er versucht, sie anzulächeln. Das hat nicht wehgetan. Aber in Wirklichkeit hat es das. Sehr. Bevor sein Lächeln abbricht, findet er sich im Schwitzkasten wieder. Scheiße, ist die schnell! Mika wirbelt ihn wie einen Sack Kartoffeln herum und wirft ihn auf einen Tisch. Der Tisch zerbricht. Ebenso irgendetwas in seiner Brust. Er glaubt, es ist eine Rippe, meint aber, dass da keine mehr sind, die noch brechen könnten. Er steht auf, versucht sich an einem Lächeln und stürmt auf sie zu. Greift nach ihren steinharten Armen. Nagelt sie an die Wand. Ein Schwall Adrenalin erfüllt sein ganzes Wesen. Jetzt hat er sie. Er lässt seine Faust in ihr Gesicht fliegen. Sie lässt sich zur Seite fallen, und seine Hand kracht in die Steinwand, während er merkt, wie Mika ihn hochhebt. Einen Augenblick später wirbelt sie ihn herum und wirft ihn ins Publikum, während seine gebrochene Hand anschwillt und mit jedem Herzschlag pocht. Die Menschenmenge macht Platz und lässt ihn hart zu Boden fallen. Irgendetwas bricht. Er hofft, dass es kein Knochen ist. Alles ist durcheinander. Er kommt sich vor, als würde er unter Wasser einer Menschenmenge zuhören, die ihn gedämpft anschreit, wieder aufzustehen oder liegenzubleiben. Er kann es nicht sagen. Er steht auf und blickt zur Uhr, spürt einen stechenden Schmerz in seinem Mund und bemerkt eine fiese Lücke. Mein Zahn! Mein verdammter Zahn! Er sieht sich auf dem Boden um und findet den Schneidezahn in einer Pfütze aus Blut und Spucke. Die Wurzel ist noch dran. Er sieht zum amüsierten und gut unterhaltenen Publikum hinüber und erkennt Wallace, der blass und verängstigt wirkt, als Mika plötzlich auf Ace losgeht.
ERINNERUNG 2484[]
Ace sucht unter einem Tisch Zuflucht, aber Mika greift ihn am Knöchel und zieht ihn hervor. Sie hebt ihn über seinen Kopf, wirbelt ihn herum und lässt ihn gegen einen weiteren Tisch krachen. Er steht auf, dreht sein Gesicht zu ihr um und schüttelt seinen Kopf, bis er wieder klar sehen kann. Er taumelt und lässt eine Linke gegen die drei Gesichter fliegen, die er sieht. Mika duckt sich, verpasst ihm einen schneidenden rechten Körperhaken und lässt ihn dann mit einem vernichtenden rechten Haken zu Boden gehen. Er rollt über den Boden, keucht und spürt seine gezackten, hervorstehenden Rippen. Vermutlich sollte er besser tot sein. An die Krankenhausrechnung mag er gar nicht erst denken. Krankenhaus? Er braucht kein Krankenhaus. Er war seit zehn Jahren nicht mehr beim Arzt und braucht jetzt ganz bestimmt auch keinen. Sein Körper kann alleine heilen. Er drückt sich hoch, kann unterhalb der Hüfte aber nicht viel spüren. Mit seiner unverletzten Hand lässt er einen schwachen Schlag los. Mika fängt seine Faust mitten in der Luft ab und quetscht seine Finger zu Brei. Erbarmungslos schnappt sie sich seinen Arm und ... drückt seinen Ellbogen nach vorne durch. Er schreit, während Blut aus seinem Mund sprudelt. Sie will ihn am Boden sehen, und wenn es bedeutet, ihn zu töten.
Plötzlich begreift Ace, ... dass Mika selbst auch gewettet hat. Endorphine strömen durch sein Blut, während er auf dem sich drehenden Boden des „Uh, Oh“ herumrollt. Ein Blick auf die Uhr enthüllt, dass er nur noch zwanzig Sekunden hat. Er wird gewinnen – und wenn er jeden Knochen in seinem Körper dabei verliert. Was soll mir die Mieze jetzt noch antun können? Wacklig kommt er wieder auf die Füße und lächelt, während Blut aus seinem Mund spritzt. Sie greift ihn mit einem Wildcat an und verwandelt sich in einen Wirbelwind aus vernichtenden Schlägen. Er wird ein dutzendmal getroffen und mit einem fiesen Uppercut flachgelegt. Die Menge johlt und schreit Mika an, dass sie ihn endgültig schlafen legen soll. Aber Ace will seinen Alligatorzahn nicht verlieren, auch wenn ihn das seinen richtigen Zahn kostet.
Sekunden verstreichen wie Minuten. Die Glocke ertönt. Es ist vorbei. Endlich ist es vorbei. Ace bricht zusammen. Wallace blickt mit neuem Respekt auf ihn herunter, einen Haufen Geld in seiner Hand. Ace starrt das Geld an und schafft es, etwas zu stammeln. Du Mistkerl ... Du hast auf mich gewettet? Wallace zieht Ace hoch und gibt ihm seinen Zahn. Steckt den in deinen Mund, damit die Nerven feucht bleiben. Lass ihn dort, bis wir im Krankenhaus eintreffen. Du hast Geschichte geschrieben, Kumpel. Ace schüttelt den Kopf. Alles gut ... Brauche keinen Arzt. Wallace lacht zweifelnd. Junge ... Du brauchst einen Arzt, einen Zahnarzt und einen verdammten Psychiater.
Meg Thomas: Im Staub stehen gelassen[]
ERINNERUNG 548[]
Reifen aufschlitzen? Klingt ein bisschen extrem. Meg bedauert, dass sie Trainerin Jenny im Sportunterricht gezeigt hat, wie schnell sie laufen kann. Damit hatte sie etwas gesehen, das ihr gefiel, bat Meg zu laufen, und jetzt will sie, dass sie bei den Landesmeisterschaften antritt. Von einem faktischen Niemand über Nacht zu einer glorifizierten Sportskanone. Neue Freunde, bittere Rivalinnen und jede Menge Gerüchte. Warum Meg? Warum bekommt sie ein Gratisticket? Sie hat nie trainiert, ist niemandem in den Hintern gekrochen und hat auch keine Pillen genommen, um nicht zuzunehmen. Warum sie? Was macht sie so besonders? Der Gedanke an das Gratisticket bringt Meg zum Lachen. Kein Gratisticket für sie. Sie ist immer nur gerne gelaufen, nur nicht organisiert. Und sie ist sich ziemlich sicher, dass sie mehr Stunden in ihre Leidenschaft gesteckt hat als alle anderen im Team.
Das Team kleidet Meg mit einem schwarzweiß gestreiften Banditenkostüm ein – wie eine Verbrecherin in einem Stummfilm. Das ist so dumm, dass sie am liebsten schreien möchte. Zwei Teammitglieder diskutieren über das Kostüm und beschließen letztendlich, das Banditenklischee aufzugeben und nach einem zeitgemäßen Superschurkenkostüm Ausschau zu halten. Sie basteln eine Maske und sagen ihr, dass sie in der Nähe der Polizeiwache Reifen aufschlitzen soll. Dann tauschen sie nervöse Blicke aus. Klingt weniger nach einem Initiationsritus als viel mehr nach einer Möglichkeit, sie aus dem Team hinaus und in eine Gefängniszelle zu werfen. Dana sieht sie seltsam an, ein böser Blick. Anscheinend hat sie einen flauen Magen und sogar Blähungen. Sie hasst Meg, weil sie ihre Zeit geschlagen hat, und will sie vermutlich eingesperrt sehen. Der Rest des Teams denkt sich Superschurkennamen für Meg aus. Street Rusher. Super Blaster. Dare Diva. Was auch immer. Alles dumm. Entscheidet euch endlich für einen Namen.
ERINNERUNG 549[]
„Dare Damsel“ Meg flitzt durch die Straßen und sorgt für Gelächter und Aufmerksamkeit. Sie fühlt sich dumm und gleichzeitig verängstigt, während sie in ihrem Superschurkenkostüm herumrennt. Meg unterdrückt ihre Angst, reißt sich zusammen, fokussiert ihre Gedanken. Wenn sie einen aufgeschlitzten Reifen wollen, dann bekommen sie einen – und noch mehr. Ich werde direkt in den Bauch des Wals gehen und eine Rippe herausreißen. Sie lacht bei der Vorstellung. Sie fragt sich, woher dieses Bild kam, und bemerkt, dass es aus einer der Geschichten stammt, die sie kürzlich ihrer Mutter vorgelesen hat, damit diese trotz ihres schlechten Gesundheitszustands besser einschlafen kann. Die Ärzte wissen nicht, was sie hat. Und jetzt können sie sich keine Ärzte mehr leisten. Lass dich von deinen Gedanken nicht täuschen. Meg verdrängt den Kummer aus ihrem Kopf, während die Fußgänger lachen und auf ihr Kostüm zeigen. Ich werde die Polizei ins Visier nehmen und einen Rekord für dieses dumme Schikanierungsritual aufstellen.
ERINNERUNG 550[]
Meg ist das Schulgespräch, und das gefällt ihr. Trainerin Jenny sagt ihr, dass sie trotzdem noch viel Arbeit hinsichtlich der Lauftechnik vor sich hat. Sie weiß nicht einmal, was das bedeutet. Über Jahre hinweg ist sie mit ihrer Mutter in den Bergen gelaufen und musste nie etwas über „Lauftechnik“ lernen. Die Trainerin sagt, in den nächsten paar Trainingsstunden muss sie ihre Sicherheit an der Startlinie verbessern. Klar, das sollte kein Problem sein. Die Trainerin verbringt viel Zeit mit Meg, und vielen im Team fällt das allmählich auf. Im Hintergrund macht Dana abfällige Bemerkungen über die Proportionen von Megs Körper, über Megs Anfängerglück, über die ungünstigen Proportionen von Megs Beinen im Verhältnis zu ihrem Torso. Meg ignoriert sie, weigert sich, ihre Eifersucht durch Kommentare zu würdigen. Dana bekommt keine Reaktion von Meg, als sie darüber spricht, dass ihre Oberschenkel zum Laufen ein wenig zu dick sind. Dana macht ihr dummes Blähungsgesicht. Meg starrt Dana an, eine Flut von Kraftausdrücken auf der Zunge. Dich werde ich schon bald im Staub stehenlassen, Mädchen! Meg unterdrückt ihren Zorn und lächelt höflich, dankt dem Mädchen für den Hinweis und sagt ihr, sie sei zuversichtlich, dass ihr sogenannter unproportionaler Körper und ihre dicke Oberschenkel sich in den Meisterschaften als Vorteil erweisen werden.
ERINNERUNG 551[]
Nach einer anstrengenden aber auch belebenden Trainingsstunde tritt Meg ihren langen Heimweg an. Sie hält ihr Glücksreifenstück in der Hand, obwohl sie nicht wirklich an Glück glaubt. In ihrem Kopf hört sie die Stimme ihrer Mutter rasseln. Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Und doch ... sieht das Stück Reifen irgendwie ein bisschen wie ein Hufeisen aus. Zufall? Vermutlich. Sie bewundert ihr Glücksreifenstück und erschreckt sich, als sie hinter sich einen Ast knacken hört. Bevor sie begreift, was los ist, wirft eine schattenhafte Gestalt sie zu Boden und stampft auf ihren Knöchel. Schreckliche Schmerzen schießen ihr Rückgrat hoch, und sie schreit um Hilfe, als der Schatten davonsprintet. Meg schreit vor Schmerz, als sie verzweifelt versucht, auf die Füße zu kommen. Kaum berührt ihr verletzter Fuß den Boden, breitet sich ein weiterer stechender Schmerz wie ein Lauffeuer in ihr aus. Sie bricht zusammen. Sie schließt ihre Augen, sammelt sich, unterdrückt ihren Schmerz und tastet um sich, sucht etwas, das ihr Gewicht tragen kann. Einen Augenblick später hat sie einen dicken, knorrigen Ast in der Hand und kreischt, während sie sich in den Stand zwingt. Jeder Schritt nach Hause ist wie ein Hammerschlag auf ihren Knöchel.
ERINNERUNG 552[]
Der Arzt sagt Meg, dass ihr Fuß mehrfach gebrochen ist und sie ihn nicht belasten soll, bis er verheilt ist. Sie humpelt auf Krücken aus der Praxis, ihre Mutter an ihrer Seite. Meg spürt, dass sie um sie besorgt ist und sie sich Gedanken macht, wie sie die Rechnung ohne Krankenversicherung bezahlen soll. Schweigend fahren sie nach Hause. Mama ... Es tut mir leid. Meg durchbricht die Stille. Ihre Mutter schüttelt den Kopf. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Meg. Das ist nicht nötig. Ich bin nur froh, dass es dir den Umständen entsprechend gutgeht ... Es hätte schlimmer kommen können. Meg nickt und geht den Überfall in ihrem Kopf wieder und wieder durch. Der Schubs. Der Tritt. Das Stampfen. Nichts davon ergibt Sinn. Der Übeltäter hat sie nicht ausgeraubt, hat nicht versucht, ihr irgendwas zu stehlen. Megs Mutter unterbricht die Stille und fragt, ob ihr noch irgendwas über den Mann eingefallen ist, seit sie mit der Polizei gesprochen haben. Meg schüttelt den Kopf. Ich bin nicht einmal sicher, dass es ein Mann war.
ERINNERUNG 553[]
Am Küchentisch vertraut Meg sich ihrer Mutter an. Sie ist überzeugt, Dana hat arrangiert, dass jemand sie verwundet, damit sie nicht mehr laufen kann. Vom aufkeimenden Zorn überwältigt sagt sie Dinge, die sie sonst nie sagen würde. Ich will, dass sie tot ist. Ich will sie zerquetschen wie eine Fliege. Ich will, dass sie in der verdammten Hölle brennt. Ich hätte diesen Lauf gewonnen! Ihre Mutter hört ihr zu, ohne darüber zu urteilen, und wartet ab, bis sie sich wieder beruhigt. Du bist sehr aufgebracht und das verstehe ich auch, aber ... lass dich nicht auf ihr Niveau herab. Lass dich von ihr nicht in jemanden verwandeln, der du nicht bist. Du willst Rache? Die beste Rache ist Erfolg. Lass sie wissen, dass du selbst dann die Beste bist, wenn du an einem Tiefpunkt bist. Das wird für sie die absolute Hölle sein. Meg zieht die Augenbrauen zusammen und blickt zu ihrer Mutter. Ihre Mutter drückt ihre Hand. Wenn du glaubst, du bist geschlagen, dann bist du es auch. Wenn du meinst, du kannst das nicht, dann kannst du es auch nicht. Die Kämpfe des Lebens lassen sich nicht mit Tempo und Kraft gewinnen, sondern mit Köpfchen und Willen. Tränen sammeln sich in Megs Augen. Nicht wegen des Ratschlags ihrer Mutter, ... sondern weil sie weiß, dass die Tage ihrer Mutter gezählt sind ... Und weil dies vermutlich eines ihrer letzten aufbauenden Gespräche ist.
Ihre Mutter reicht ihr eine Schachtel, die sie unter dem Tisch hervorgeholt hat. Meg hebt den Deckel an und sieht ein schwarzes Kleid, das anders ist als alles, was sie je gesehen oder getragen hat. Bevor sie irgendetwas sagen kann, lacht ihre Mutter. Du wirst nicht nur gewinnen, du wirst auch noch das Juwel der After-Show-Party sein. Meg spürt einen Kloß im Hals heranwachsen. Verliere nicht all deine Kräfte, indem du dich auf das Negative konzentrierst. Ihre Mutter hat früher Tennisturniere gespielt. Während sie aufwuchs hatte Meg lauter Geschichten über Billie Jean King gehört. Meg wartet auf das aufbauende „Hör zu, um zu gewinnen“, das sie schon unzählige Male gehört hat. Ihre Mutter erzählt, wie sie einer Radioübertragung von Kings Spiel zugehört hat, um ihre Gedanken von Furcht und Negativität abzulenken. Fülle deinen Kopf mit Erfolg, damit kein Platz mehr für Angst bleibt. Auf ihrem Miniplayer hat sie für Meg einen speziellen Mix vorbereitet. Meg nimmt den Miniplayer und starrt ihn einen Augenblick, einen langen Augenblick an. Dann beugt sie sich über den Tisch und umarmt ihre Mutter. Am liebsten möchte sie nie wieder loslassen.
ERINNERUNG 554[]
Meg hört eine Radiosendung, als sie die Schule betritt. Schnellster Läufer aller Zeiten. Buckeye-Bullet holt bei den Olympischen Spielen trotz aller mentaler und körperlicher Hürden Gold. Sie hört sich die Sendung wieder und wieder an. Fülle deinen Kopf mit Siegen, damit kein Platz für Angst oder Zweifel bleibt. Als Meg ihren Miniplayer weglegt, kommt die Trainerin zu ihr. Ich habe da ein schlimmes Gerücht gehört, dass Dana etwas mit deinem Fuß zu tun haben könnte, daher habe ich beschlossen, sie vom Wettlauf auszuschließen. Meg schüttelt den Kopf. Bitte tun Sie das nicht ... Ich werde sie schlagen, Trainerin, und ich werde gewinnen. Die Augen der Trainerin weiten sich. Du wirst was? Du hast nicht wirklich gerade gesagt, dass du gewinnen wirst? Du denkst doch nicht wirklich darüber nach, mit diesem Fuß zu laufen. Meg zögert, dann lügt sie. Der Arzt sagt, das sei in Ordnung, der Fuß sei nur etwas geprellt. Die Trainerin berührt den Fuß, Meg schreit auf. Sie sieht Meg skeptisch an, seufzt, sagt nichts weiter und geht. Dare Damsel Meg schnappt sich ihren Miniplayer, dreht die Lautstärke auf und füllt ihren Kopf mit großen Leistungen, während Buckeye-Bullet den „Diktator“ im Staub stehen lässt.
Philip Ojomo: Die Algebra der unendlichen Nacht[]
ERINNERUNG 656[]
Der Junge hält seine Glücksglocke in der Hand und blickt hinaus in die voranschreitende Dämmerung. Die Nacht kommt und mit ihr das Versprechen von Monstern, die schlimmer sind als alles, was sein Vater je in seinen Lagerfeuergeschichten beschrieben hat. Gerüchte von endlosen Massakern verschrecken ihn, und er hofft, dass seine Mutter und sein Vater bald zurückkehren. Sie haben eine Radiosendung gehört, in der jenen, die sich verstecken, Sicherheit versprochen wird. Dann gingen sie mit anderen los, um das zu untersuchen. Den ganzen Tag hat er damit verbracht, auf die unbefestigte Straße zu starren, die aus dem Dorf hinausführt, und auf ihre Rückkehr zu warten. Einige sind mit Wunden und Horrorgeschichten zurückgekehrt. Endlose Geschichten von Tod, Zerstörung und Wahnsinn. Keine davon hat er verstanden. Sie hassen uns. Warum? Warum hassen sie uns? Weil ihnen im Radio und Fernsehen gesagt wird, dass sie das tun sollen. Was habe ich ihnen denn getan? Du wurdest im neu erschaffenen Nigeria geboren, das hast du getan. Du wurdest als Nordländer geboren. Seine Großmutter kommt zu ihm. Hast du da draußen irgendwas gesehen? Philip schüttelt den Kopf. Wenn du irgendwas siehst, ... wenn du Gefahr siehst, ... dann läute die Glocke deines Vaters und verstecke dich mit den anderen. Philip nickt und blickt zur Glocke. Werden sie zurückkehren? Seine Großmutter zögert einen langen Moment. Ich glaube ... Ich glaube nicht, Philip: Sie verstecken sich. Seine Augen füllen sich mit Tränen, während seine Großmutter in ein kleines, strohgedecktes Haus zurückkehrt. Er spürt, wie eine Träne seine Wange herunterrollt. Und er weiß, dass er seine Eltern nie wiedersehen wird ... Er weiß es einfach.
ERINNERUNG 657[]
Großmutter Abigail hat seit Tagen nicht mehr gelächelt. Ein schrecklicher Geruch von verrottendem Fleisch zieht in ihr Dorf, und sie sagt Philip, dass es der Gestank von verwesenden Kühen sei. Philip nickt, weiß aber, dass sie ihn nur vor der Wahrheit beschützen will. Er hat die Älteren beim Brunnen reden hören. So viele Tote und ... sie verbrennen die Leichen, bevor es eine Untersuchung gibt. Wer verbrennt die Leichen? Tötungskommandos ... Menschenmetzger. Männer, die dafür bezahlt werden, Leute verschwinden zu lassen, als ob sie eine Kakerlakenplage wären. Ein Pakt mit dem Teufel – für Geld. Er hasst sie alle und versucht, zu schlafen, kann aber nicht. Er kann lediglich auf die Tür starren, durch die er hoffentlich seine Eltern zurückkommen sehen wird. Aber er weiß, ... sie werden nie zurückkehren, und jetzt hat er nur noch Großmutter Abi.
Abi kommt zu ihm und legt sich neben ihn. Er lehnt seinen Kopf an sie, schließt seine Augen und weint. Er hört, wie sie ihren Mund öffnet, um etwas zu sagen, ... aber es folgen keine Worte. Er öffnet seine Augen wieder und sieht sie leise weinen. Bevor er etwas sagen kann, läutet eine Glocke. Ihr Gesicht versteinert, während sie ihn am Handgelenk nimmt und nach draußen und zu einer Bodenluke führt. Einen Augenblick später sind sie unter der Erde. Die gedämpften Geräusche des Abschlachtens dröhnen durch den Boden. Er wimmert in Abis Umarmung. Sie drückt ihn fester und fester, während die Schreie draußen sich in ein unerträglichen Pandämonium verwandeln. Ihm war nie bewusst, dass Menschen solche Geräusche von sich geben können. Alles was er tun kann, ist, seine eigenen Schreie zu unterdrücken. Er wimmert, und Abi hält ihm den Mund zu – nur für den Fall.
ERINNERUNG 658[]
Stille. Schreckliche Stille, die einem den Magen umdreht. Philip rutscht unruhig in ihrem Behelfsbunker hin und her und lauscht, um etwas zu hören ... irgendetwas. Abi stupst ihn an. Mal sehen, wie gut du in Mathe bist, Philip. Mathe? Sie will ihn von der Hölle da draußen ablenken. Sechs plus vierundzwanzig minus acht. Er rechnet. Zweiundzwanzig. Sie lächelt und nickt. Sie gibt ihm noch eine Herausforderung. Und noch eine. Während er antwortet, sammeln sich immer mehr Tränen in seinen Augen. Sie berührt sein Gesicht. Denk nicht darüber nach, was draußen passiert ... Hör auf meine Worte und spiele mit. Er nickt und versucht, sein Bestes zu geben, ihre Herausforderungen zu bestehen ... Aber er kann nicht anders, als an seine Mutter zu denken ... An seinen Vater ... Sie haben immer gesagt, dass Mathe sein Gehirn stärken würde. Dass er davon gut in der Schule werden würde. Dass er dadurch viele Möglichkeiten hätte, anders als sein Vater. Sein Vater ... Er würde nie wieder Mathe mit ihm machen, ... nie wieder Schach mit ihm spielen ... oder Geschichten erzählen ... Und warum? Weil Männer für Geld die Arbeit des Teufels machen.
Abi stößt ihn an. Philip bittet sie, die Aufgabe zu wiederholen, doch genau in diesem Moment zerreißt der Schrei eines Säuglings die Stille. Sofort blickt er zu seiner Großmutter. Ihre Augen weiten sich, als sie aufsteht und zur Leiter geht. Philip läuft zu ihr hin und greift nach ihrer Hand. Geh nicht ... Bitte ... Bitte ... Sie zögert und starrt die Bodenluke über ihnen an. Ich kann den Jungen nicht da draußen alleine lassen. Philip nickt und möchte ihre weiche und faltige Hand am liebsten ewig festhalten. Aber er lässt los und sieht zu, wie sie tapfer die Leiter nach oben klettert und in den sengenden Tag verschwindet.
ERINNERUNG 659[]
Stunden? Tage? Wochen? Er ist nicht sicher, wie viel Zeit verstrichen ist. Seine Blicke haben die Bodenluke nie verlassen, während er in seinem Kopf zahllose mathematische Probleme gelöst hat, um sich nicht der Wahrheit stellen zu müssen, dass sie mit seinen übrigen Verwandten verschwunden ist. Er hört ihre Stimme, ihr Lachen, ihr Seufzen. Er möchte sie wiedersehen. Er möchte seine Eltern sehen. Seine Freunde und Nachbarn. Er möchte sie alle sehen. Aber er weiß, ... dass sein Leben nie wieder dasselbe sein wird und er lieber tot sein möchte, anstatt ohne sie zu leben. Er schließt seine Augen und klettert in die kühle Nacht hinauf. Der Geruch von verwesenden Menschen überfällt augenblicklich seinen Geruchssinn. Erinnert ihn an Tiere, die auf der Straße überfahren und tagelang in der Sonne liegen gelassen wurden ... Nur ... schlimmer ... Er sucht den vom Mond beleuchteten Boden ab und findet schon bald bei den verkohlten Überresten eines Körpers die Glocke seines Vaters. Was ist geschehen? Du solltest doch aufpassen, oder nicht? Du solltest uns doch warnen. Er nimmt die Glocke und weint heiser flüsternd um seine Großmutter. Doch das Flüstern verwandelt sich in einen endlosen Schrei. Er schreit, bis seine Stimme ihn verlässt. Als Antwort gibt es nur die ohrenbetäubende Stille der kalten, gleichgültigen Nacht. Er fällt auf seine Knie, tastet mit seinem Finger nach der Glocke und wünscht sich, er könnte einfach aus diesem lebendigen Albtraum verschwinden.
ERINNERUNG 660[]
Von Dorf zu Dorf dasselbe Bild. Tod und Zerstörung. Verbrannte Autos, Häuser und Leichen. Seine Leute verschwinden in einer scheinbar endlosen Mischung aus Nebel und Rauch. Er kann sich nicht mehr von der Stelle bewegen. Ihm fehlen die Kraft und der Wille dazu. Der Rauch beißt in seinen Augen. Der Gestank lässt ihn bei jedem Atemzug würgen. Doch am wenigsten erträgt er ... die Stille. Diese schreckliche Stille. Diese bedrückende, entsetzliche, gleichgültige Stille. Er bleibt stehen und setzt sich neben einen Baum. In der Nähe gleitet ein Geier durch die Luft und wartet darauf, dass er stirbt. Er will sein frisches Fleisch. Roh. Nicht verbrannt oder in Kerosin getränkt. Er schließt seine Augen für einen Moment und lässt seinen Geist wandern. Weit weg. Doch schon bald hört er eine Stimme ... Eine Stimme, wie die seiner Mutter ... Er öffnet seine Augen und sieht eine Frau und mehrere schlammverschmierte Kinder, die ihn anstarren. Die Mutter streckt eine offene Hand aus. Du musst mit mir kommen. Philip antwortet nicht. Er kann nicht antworten. In seinem Mund sind weder Wärme noch Feuchtigkeit. Seine Kehle ist wie trockener Sand. Seine Augen sind wie Teer. Die Frau reicht ihm eine Flasche, und er trinkt, als hätte er noch nie zuvor Wasser getrunken. Sie sagt ihm, dass sie Funanya heißt und er mit ihr kommen soll. Ich will nicht mehr weglaufen ... Ich will sterben ... Die Mutter hält weiterhin ihre Hand ausgestreckt. Und deshalb musst du leben ... Du musst leben, um den anderen zu sagen, was passiert ist ... Du musst es bezeugen ... Philip blickt an der Frau vorbei und richtet seinen Blick auf einen Jungen und zwei Mädchen. Er nimmt Funanyas Hand, und gemeinsam stapfen sie in den dichten Rauch und Nebel – und weigern sich, verschwunden zu sein.
ERINNERUNG 661[]
Philip betritt ein Haus, das von den Tötungskommandos ausgeplündert worden ist. An der Wand sind Blutspritzer, und ein dunkler vertrauter Gestank erfüllt das Haus. Philip will nicht darüber nachdenken, was den Besitzern zugestoßen ist. Einen Augenblick lang sieht er seine Mutter auf ihn zu kommen, doch dann verschwindet sie und gibt den Blick auf Funanya frei. Sie kommt mit ein paar geretteten Schulsachen zu ihm. Manchmal hilft Malen dabei, Dinge aus dem Kopf zu bekommen. Philip schüttelt den Kopf. Er möchte nicht malen, und er möchte auch kein Mathe machen. Er möchte gar nichts tun, außer aus diesem schrecklichen Albtraum aufzuwachen. Er blickt zu dem anderen Jungen hinüber, Emeka, während der ein Bild von seinem Dorf malt. Er hat ein Dutzend Farben zur Auswahl, benutzt aber nur Schwarz. Funanya versteht nicht, warum ihm die Farben nicht zusagen ... Es ist, als ob er aufgehört hätte, Farben zu sehen. Philip sieht sich das Bild des farblosen Dorfes an und geht nach draußen, wo Nikki und Chika Wache halten. Er zeigt ihnen die Glücksglocke seines Vaters, obwohl er nicht sicher ist, ob sie überhaupt noch Glück bringt. Er gibt sie Nikki und erklärt ihr, dass sie damit läuten soll, wenn sie etwas sieht.
ERINNERUNG 662[]
Ich hasse den Geruch von Kerosin. Funanya nickt und stimmt Philip zu. Doch eigentlich ist es nicht das Kerosin, sondern alles andere, das damit zusammenhängt. Nikki schaut zu Funanya und fragt, warum die Kommandos alles verbrennen. Funanya antwortet nicht. Vielleicht weiß sie es auch nicht. Philip dreht sich zu ihr um. Sie verbrennen Beweise. Nikki und Chika schauen zu Funanya, und sie nickt. Philip hört die Stimme seiner Großmutter. Tod plus Zerstörung gleich gutes Geschäft für Teufel im Menschenkostüm. Philip knirscht mit den Zähnen und antwortet der körperlosen Stimme. Sie müssten alle umgebracht werden ... Jene, die für den Mord bezahlen, und jene, die aus dem Mord ihren Profit ziehen ... Funanya starrt ihn an. Philip, ... sag so etwas nicht ... Sie versuchen, uns unsere Menschlichkeit zu nehmen. Und das ist die einzige Sache, die sie uns nur nehmen können, wenn wir sie ihnen überlassen.
Philip spürt, wie sein Gesicht erstarrt. Ich will keine Predigt. Ich will meine Familie zurück. Ich will, dass sie für das bezahlen, was sie getan haben. Funanya legt ihre Hand auf seine Schulter. Bete zum Engel der Gnade, dass wir überleben, damit wir es bezeugen können. Philip sieht an ihr vorbei und in die immer dunkler werdende Nacht. Lieber bete ich zum Engel des Todes und sehe sie leiden. Vergib, dann wird auch dir vergeben. Das kann ich nicht! Ich hasse sie! Wie können sie Geld für solche Taten nehmen? Es wird Gerechtigkeit geben, Philip. Sie werden nicht mit ihren Verbrechen davonkommen. Philip sagt nichts. Er sagt nichts, weil er wie sein Vater glaubt, dass jene, die Geld haben, jene, die sich Tötungskommandos und genug Kerosin leisten können, um Menschen zu Tausenden zu verbrennen, mit jedem Verbrechen davonkommen können, das sie sich aussuchen – selbst Massenmord. Sie kann für Gnade beten, so viel sie möchte. Er betet lieber für Rache.
ERINNERUNG 663[]
Jene, die von Mord profitieren, sind schlimmer als Tiere. Er kann einfach nicht verstehen, dass Menschen solche schrecklichen Dinge für Geld tun. Wenn er das überlebt, ... wenn er diese Feuerhölle überlebt, ... dann wird er sich rächen. Er kann nicht anders, als Funanya seine finsteren Gedanken mitzuteilen. Sie sagt, dass Auge um Auge nicht der richtige Weg ist. Dass Auge um Auge die ganze Welt blind machen und uns alle in eine unendliche Nacht stürzen würde. Die Welt wird blind? Die Welt ist bereits blind für das, was ihm und seinen Leuten zustößt. Zur Hölle mit der Welt. Der Welt ist es egal. All diese Unruhen und diese Zerstörung waren beabsichtigt. Es war eine mathematische Formel, sein Land zu teilen, zu erobern und seiner geliebten Ressourcen zu berauben. Hunderte Male hat er seine Eltern das sagen gehört. Funanya lässt weitere kluge Worte von toten Anführern hören, und er hört auf, von Rache zu reden. Einen Moment lang denkt er, dass sie vielleicht recht haben könnte. Vielleicht ist Rache nicht die Lösung. Vielleicht wird die Welt eines Tages aus ihrer schläfrigen Gleichgültigkeit erwachen und seinen Leuten helfen.
ERINNERUNG 664[]
Nikki gibt Philip in der dunklen Nacht seine Glocke zurück. Jetzt ist er dran, nach Tötungskommandos Ausschau zu halten. Aber er hat seit Tagen nicht geschlafen und seine Augenlider sind schwer wie Blei. Er hält die Glocke nah an seinem Herzen, und für einen Augenblick, nur einen kleinen Augenblick schließt er seine Augen. Nur für eine Minute. Er schreckt mit einem furchtbaren Gefühl hoch, die Morgenhitze macht sich schon breit. Er springt auf die Füße und sucht seine neuen Freunde. Er findet einen ... Teile von einem ... Er ist nicht sicher. Er hört jemanden stöhnen. Er sucht und findet ... Funanya ... Nicht tot, aber sie liegt im Sterben ... Jede Sehne durchtrennt ... Sie windet sich vor Schmerz, ... ist bedeckt mit etwas Goldenem ... Honig ... Sie haben sie mit Honig übergossen ... Und eine Million kleiner schwarzer Dinger schwimmt, ertrinkt und frisst in den goldenen und blutroten Strömen, die aus ihrer Wunde rinnen.
Die Ameisen kriechen unter ihre Haut und fressen sie bei lebendigem Leibe. Er kniet sich neben sie und versucht, sie wegzuwischen. Doch es bringt nichts. Sie sind überall. Funanya winselt und spuckt Blut, als sie versucht, zu sprechen. Aber ihre Zunge fehlt, und das einzige, das sie von sich gibt, ist ein rasselndes Geräusch. Philip kniet sich vor sie hin. Er weiß nicht, was er sagen oder tun soll. Ich bin eingeschlafen ... Es tut mir leid, ... so leid ... Doch davon wird sie auch nicht wieder gesund. Davon werden die Ameisen auch nicht vertrieben. Die Kinder, die sie beschützt hatte, bringt es nicht zurück. Mit ihrem Finger schafft sie es gerade noch, etwas in den Dreck zu kratzen. Ich vergebe dir.
Philip starrt die Wörter für einen langen Moment an. Stille Tränen fallen, als er seine Hand zu ihrem Gesicht hebt. Sie schließt ihre Augen und wartet darauf, dass ihr Leiden ein Ende nimmt. Er will es nicht tun, muss es aber. Er weiß, dass er es tun muss. Er schließt seine Augen und legt seine Hand über ihren Mund, über ihre Nase. Und für einen Augenblick, für einen kleinen Augenblick wird er zu ihrem Engel der Gnade.
ERINNERUNG 665[]
Philip betritt unter dem Deckmantel der Dunkelheit ein weiteres dezimiertes Dorf und sieht Menschen ... Ein Tötungskommando. Vielleicht genau diejenigen, die seine Beschützerin getötet haben. Vielleicht genau diejenigen, die seine Großmutter getötet haben, ... seine Eltern. Keine Hölle ist gut genug für diese Dämonen, die Geld annehmen, um Menschen verschwinden zu lassen. An einem Feuer kochen sie sich etwas. Sie lachen und machen Scherze auf Kosten jener, die sie abgeschlachtet haben. Sie reden über seine Leute, als wären sie Tiere. Nein. Weniger als Tiere. Niemand nimmt den Tieren, die sie töten, ihren Stolz. Oder lacht über sie. So etwas hat er noch nicht gesehen. Hunde ohne Menschlichkeit. Das sind sie. Hunde, tollwütige Hunde. Nicht mehr und nicht weniger. Irgendein ursprünglicher Instinkt nagt an ihm. Er spürt, wie die Dunkelheit wie die Ranke einer anderen Welt nach seinem jungen und unschuldigen Herz greift. Nein, es ist nicht mehr jung und unschuldig. Er hört Funanyas Stimme. Vergib, dann wird dir vergeben.
Aber er will nicht vergeben. Und er will auch nicht, dass ihm vergeben wird. Er will, dass sie leiden, wie sie seine Leute haben leiden lassen. Er will sie dafür leiden sehen, dass sie ihm alles genommen haben. Er hört die Stimme seiner Großmutter, die versucht, ihn mit unendlichen mathematischen Problemen von seinen finsteren Gedanken an Rache abzulenken. Doch ihre Stimme wird von seinem wütenden und rasenden Herzschlag des Hasses übertönt. Ihre Stimme schreit Gleichungen und Aufgaben. Aber er starrt die Männer an. Er spürt das Kerosin durch seine Adern strömen und ist bereit, zu explodieren. Auge um Auge, und die ganze Welt wird in eine unendliche Nacht gestürzt. Gut.
Philip bemerkt die Schusswaffen neben dem Jeep. Er könnte sich eine schnappen und sie alle erschießen. Aber er hat noch nie eine Waffe in der Hand gehabt, vermutlich würden sie davonlaufen. Er könnte sich ein Messer oder eine Machete suchen ... Aber die Hunde würde ihn überwältigen ... Lauf einfach weg, Philip. Dreh dich nicht um. Es ist deine Pflicht, zu überleben und alles zu bezeugen. Er ignoriert die Stimmen in seinem Kopf und will nur noch eines. Er will, dass sie leiden und verschwinden. Er will ... Ja ... Er will ihr Kerosin nehmen und sie auf dieselbe Weise verschwinden lassen, wie sie seine Freunde und Familie haben verschwinden lassen – in einer Rauchwolke. Und für einen Augenblick, ... einen kleinen Augenblick ... ist er der Engel des Todes, der durch die Nacht gleitet.
Durch den Spiegel: LOGS 984, 985, 986, 987, 5736[]
ARCUS 984[]
Von einem unbekannten Verbündeten wurde mir noch mehr leuchtende Energie geschickt. Mit dieser Energie konnte ich ein kleines Fenster öffnen, das es mir ermöglichte, in ein verlorenes Reich zu blicken. Zu meiner Überraschung sah ich dort eine Stadt mit Überlebenden, als ob dort nichts Ungewöhnliches passiert wäre. Nach einer Weile schloss sich das Fenster wieder, und ich verbrachte den Nachmittag damit, mir vorzustellen, wie so etwas möglich sein kann, oder ob es lediglich eine Illusion war. Am Abend ermöglichte eine weitere Energiewoge es mir, eine Tür in ein Reich zu öffnen, das ich weder erkannte noch zu erkunden wagte. Ich blickte zu der flimmernden Tür, bis sie wieder aus der Existenz verblasste. Es ist, als ob derjenige, der diese heiligen Glyphen manifestieren lässt, mir zu helfen versucht, tiefer in die Geheimnisse dieser Dimension vorzudringen. Oder vielleicht will er mir auch nur vorschlagen, dass die Antworten auf die Frage nach meiner Erlösung in den zahllosen Reichen versteckt sind, die von diesem Alten seit Urzeiten verworfen werden.
ARCUS 985[]
Anstatt auf die übliche Weise laut zu lesen, kletterte ich auf das Dach meines Turms und beschwor ein Feuer und ein Radio, um ein paar Geistergeschichten einer halb vergessenen Radioserie von Terra Dark zu lauschen. Es hat sich zweifelsfrei als die beste Methode zum Zeitvertreib erwiesen, diesen Geschichten zu lauschen. Insbesondere, wenn im Kopf zahllose Stimmen schwatzen und mich mit ihren endlosen Beklemmungen und Ängsten runterziehen. Später nutzte ich das Auris, um den Geschichtenerzähler manifestieren zu lassen, damit er seine Geschichten vorliest, wie er es für seinen wöchentlichen Podcast getan hatte. Er war aus schwarzem Nebel zusammengesetzt, der ständig in Bewegung war, und ich gehe davon aus, dass ich eines Tages in der Lage sein werde, eine realistischere Person zu erschaffen, der ich zuhören kann oder mit der ich möglicherweise sogar etwas führen kann, das einem Gespräch gleichkommt. Wenn ich dem Geschichtenerzähler und seinen vertrauten Ausdrücken zuhöre, frage ich mich: Wie halte ich mich aus meinen eigenen Schöpfungen heraus? Die Erinnerungen, die ich aufzeichnen will, so schnell ich sie erlebe, beweisen mir nur, dass Objektivität unmöglich ist oder bestenfalls schwer zu greifen. Und ich bin nie ganz sicher, ob meine Logs eine wahre und akkurate Wiedergabe meiner subjektiven Erinnerungen oder eine vom Whiskey bestimmte Interpretation eines Albtraums sind. Was mich noch mehr frustriert: Erst kürzlich habe ich bemerkt, dass andere Stimmen ihren Weg in meine Notizen geschafft haben. Andere Interpretationen. Andere Gedankenmuster von Personen, deren Erinnerungen ich wohl zu oft durchlebt habe. Sie werden ein Teil von mir, und das sollte eigentlich nicht sein.
ARCUS 986[]
Der Geschichtenerzähler hat mich mit seinen ruhmreichen Geschichten von Nosferatu die ganze Nacht hindurch unterhalten, sodass ich mein eigenes Leben, meinen Albtraum fast vergessen konnte. Seine Geschichten unterhalten mich und sind die perfekte Ablenkung, wenn es nicht reicht, Golfbälle in den Abgrund zu schlagen. Es waren zahllose Geschichten von Vampiren, und ich habe sicherlich den Großteil davon gelesen, aber in meinem Kopf ... sind seine Geschichten die schaurigsten. Mehr als einmal bin ich in kaltem Schweiß gebadet und mit dem Gefühl aufgewacht, dass mein Turm von diesen schrecklichen Kreaturen mit brutalen Fangzähnen überrannt wird.
ARCUS 987[]
Ein weiterer Vorfall weckte mich mitten in der Nacht. Eine unglaubliche Energiewoge kam von einer unbekannten Quelle auf mich zu. Zuerst dachte ich, mein Geist hätte sich in Illusionen und wilden Vorstellungen verloren, doch dann begriff ich, dass die Energie, die durch meinen Turm strömte, eine weitere Tür in ein verlorenes Reich öffnete, das aus Erinnerungen bestand, die von einer vergessenen Zivilisation stammten und in der Zeit verloren gegangen waren. Ich näherte mich der Tür und blickte auf die Überreste einer vom Krieg geschundenen und verlassenen Stadt. Der unheimliche Schrei eines Babys ertönte als Echo in der Ferne. Gerade als ich das verlorene Reich betreten wollte, schrumpfte die flimmernde Tür und zischte aus der Existenz. Schnell begriff ich, dass es ebenso gut möglich sein müsste, diese alte Stadt von meinem Turm aus zu erkunden, und zwar mithilfe dieser einzigartigen Energie und dem Auris.
ARCUS 5736[]
Ich habe diesem Alten ins Herz geblickt und Dinge gesehen, die kein Sterblicher sehen sollte ... Dinge, die gleichzeitig meinen Verstand verwirren und mein Bewusstsein belasten. Mit geheimnisvoller Hilfe habe ich die Realität aufgerissen, zahllose Spalte durchsucht und zugesehen, wie alles hilflos in Chaos und Entropie stolpert, ... in Tod und Wahnsinn ... Und für einen winzigen Augenblick hatte ich den lächerlichen Gedanken, dass der geheimnisvolle Verbündete, der mir hilft, ebenso gut der Entitus sein könnte, der ein Spielchen mit mir spielt. Wie eine Katze mit einer Maus spielt, bevor die Kralle die winzige Halsschlagader herausreißt. In den endlosen Abgrund des schwarzen Nebels blickend dachte ich, dass dieses Gefängnis auch eine andere Form der Prüfung sein könnte – verkappt und derart gestaltet, dass der Entitus die psychischen Energien aufsaugen kann, die aus Entfremdung, Langeweile und all jenen Phasen des Irrsinns entstehen, die sich der Erinnerung entziehen. Ich kann nicht anders, als Millionen unsichtbarer Haken in meinem Herzen zu spüren. Und Millionen ungesehener Augen um mich herum, ... die mich beobachten, ... darauf warten, dass ich wie alles andere in Chaos und Wahnsinn stolpere ... Die darauf warten, dass sich mein Verstand gegen sich selbst wendet. Dieser Mistkerl will, dass ich mich umbringe. Da bin ich sicher. Oder vielleicht ... Vielleicht habe ich das bereits getan, und vielleicht werde ich es erneut tun ... und wieder ... und wieder ...
Kurzfilme[]
Lisa Sherwood: Glücksfall
Ace Visconti: Kaputt machen
Meg Thomas: Im Staub stehen gelassen
Philip Ojomo: Die Algebra der unendlichen Nacht
Belohnungen[]
Durch das Abschließen der entsprechenden Aufgaben der vier Stufen im Foliant erhält der Spieler folgende Glücksbringer:
Bild
Name
Beschreibung
Stufe
Enigmatische Glyphe
Eine ungewöhnliche Glyphe, die auf das Geheimnis im Inneren hinweist.
STUFE I
Verstärkte Glyphe
Eine aktivierte Glyphe, die vor gefährlicher Energie nur so brummt.
STUFE II
Stabilisierte Glyphe
Eine vorübergehend stabile Glyphe, die eine Öffnung zu etwas herstellt, das sich unserer Vorstellungskraft entzieht.
STUFE III
Chaotische Glyphe
Eine Glyphe, die von instabiler Energie überwältigt wurde und unter dem Gewicht der Existenz zusammenbricht.