Foliant 14 - Verrat ist der Foliant zum 14. Spalt in Dead by Daylight welcher am 25. Januar 2023 veröffentlicht wurde.
Enthülle verlorene Erinnerungen für den Ritter, Vittorio Toscano und das Haus Arkham. Komme im Spalt voran und schalte mittelalterliche kosmetische Gegenstände und Glücksbringer frei. Stelle dein Können auf die Probe, indem du brandneue Gameplay-Herausforderungen abschließt. All das erwartet dich im Archiv.
Der Ritter – Nichts außer Dunkelheit
Während sogenannte Ritter von ritterlichen Werten plapperten, kannte Tarhos die Wahrheit. Diese Scheinheiligen in Rüstungen nutzten ihren Kodex für denselben Zweck wie er seine Klinge: um Macht über die Schwachen auszuüben. Sie würden bald die Unerbittlichkeit von wahrer Stärke kennenlernen.
Vittorio Toscano – Reise der Verlorenen
Sein Zeitgefühl hat ihn lange verlassen. Er ist sich nicht ganz sicher, ob für seine Vernunft nicht dasselbe gilt. Aber er setzt seine Reise fort: von Sümpfen zu Bauernhöfen zu Wäldern. Eine endlose Abfolge von Reichen, jedes geheimnisvoller als das letzte. Nur durch Wissen kann er je auf ein Entkommen hoffen ... wenn er das überhaupt will.
Das Haus Arkham
Durch verlorene Reiche verfolgt sie ihre Beute mit gezückter Klinge. Die Anhänger der schwarzen Schlange sind schwer zu fassen, aber sie wird nicht aufgeben, egal, wie weit sie gehen muss.
Er kann durch die Säule aus schwarzem Nebel, die ihn umgibt, nichts sehen, aber er weiß, dass er fällt.
Er weiß nicht, ob er sich dreht, oder ob sein Verstand vor jubelnder Freude explodiert. Diese Symbole, diese verzweifelten Einkerbungen auf dem Boden seiner Zelle, sie haben funktioniert. Er war ein Gefangener, aber jetzt ist er frei.
Das Drehen wird schlimmer. Galle kitzelt seine Kehle. Er presst seinen Kiefer zusammen, aber schließlich wird sein Mund gewaltsam geöffnet und aus seinem Mund dringt ... schwarzer Nebel. Er tanzt um ihn herum, fließt durch die Strähnen seines ungewaschenen Haares und windet sich um seine blutenden Finger. Diese Dunkelheit, dieses üble Wunder, ist auch in ihm.
Es ist ein faszinierendes Gefühl und er kämpft nicht dagegen an. Er will nichts mehr, als sich dieser Dunkelheit hinzugeben. Die Welt, wie er sie kannte, ist fort, nicht schwer zu vergessen.
Aber nein. Ich werde mich nicht verlieren. Ich bin Vittorio Toscano, Herzog von Portoscuro. Gelehrter und Sammler vergessenen Wissens. Ich suche die Großen Beobachter, die jenseits der Existenz leben. Ich möchte alles wissen, was sie wissen.
Der freie Fall endet und seine Füße berühren festen Boden. Die letzten Schwaden Nebel entweichen seinem Mund. Die Nebelsäule lichtet sich und an ihrer Stelle steht ein verfallenes Dorf. Viel kleiner als seine Heimat an der Küste. Das ist nicht das Paradies, von dem er gelesen hat.
Aber natürlich. Das Streben nach Wissen ist niemals einfach.
Wo ich auch bin, das ist erst der Beginn meiner Reise. Ich habe mich noch nicht verloren. Die Worte hallen in seinem Kopf nach. Noch nicht.
ERINNERUNG 117[]
Vittorios Augen tränen vom Gestank, als er die Hauptstraße erkundet. Was für eine Art Dorf war das? Die Straße besteht nicht aus Stein, sondern aus Sand, und selbst die wichtigsten Gebäude hier – das Wirtshaus, das Gefängnis, die Bank – sind kleine, bescheidene Bauten, die in ihrem verlassenen Zustand noch kleiner und bescheidener wirken.
Das erste Lebenszeichen, das Vittorio findet, sitzt in der Herberge. Eine zusammengekauerte Gestalt, die im Eingangsbereich vor einer eingestürzten Treppe zittert. Entschuldigung. Was ist das für ein Ort?
Die Gestalt wendet ihm ihr Gesicht zu, aber er sieht nur Leere.
Du machst dir Gedanken wegen des Geruchs. Ich rieche ihn auch. Wie riecht er für dich? Er kennt die Antwort auf ihre Frage, wagt aber nicht, sie auszusprechen.
Er weicht zurück und sie greift nach seinen Fußknöcheln. Geh nicht. Er wusste, dass du kommen würdest. Er wollte, dass ich dich so lange festhalte, wie ich kann.
Arme packen ihn von hinten und umfassen seine Brust, drücken ihn gegen die Wand. Vittorio spürt, wie die gesamte Herberge erzittert. Er fällt zu Boden. Das Gebäude knackt überall, als der Angreifer sich auf Vittorio setzt und etwas aus seiner Robe zieht.
Ich bin unbewaffnet. Ich habe nichts. Der Mann in der Robe hört ihm nicht zu. In seiner Hand befindet sich ein mechanischer Albtraum, ein Foltergerät aus einer anderen Welt. Vittorio schlägt nach dem Mann, ohne Erfolg. Ich bin schwach. Ich bin hungrig.
Holzbalken fallen von der Decke. Der Mann in der Robe zerreißt Vittorios abgetragenes Wams und bohrt das Gerät in Vittorios Brust.
Er schreit. Ein unnatürliches Brummen erfüllt seine Ohren. Staub fällt von oben herab und sticht in seinen Augen. Dieses Gebäude stürzt ein. Ich muss schnell handeln.
Vittorio gräbt seine Fingernägel in den weichen Holzboden und ritzt ein paar Symbole hinein, die er auswendig kennt.
ERINNERUNG 118[]
Die Welt ändert sich, als er die Symbole fertiggeritzt hat. Der Mann in der Robe blickte zu einem fallenden Balken auf und war genauso schnell verschwunden. Vittorio hatte die Frau schon lange davor aus den Augen verloren.
Der Angreifer. Diese ziellose Gewalt. Schon in frühen Jahren hatte Vittorio Gewalt als eine Form von Wahnsinn betrachtet. Das Symptom irgendeiner Krankheit, die die meisten nicht überwinden konnten. Selbst sein treuester Ritter, der Ungar, konnte dem Reiz der Gewalt nicht widerstehen.
Erst als sein Verstand nicht mehr umherwandert, hört er das Rascheln von Blättern im Wind. Dunkles Sonnenlicht dringt durch das Blätterdach über ihm. Ein Wald.
Vittorio steht auf und Schmerz durchfährt seine Brust. Seine Brust! Seine Verletzung! Der Mann in der Robe mit seinem Werkzeug des Schmerzes. Er muss mir Gift gespritzt haben.
Er öffnet sein zerrissenes Wams und sieht sich die Zeichen über seiner Brust an. Keine Anzeichen von Stichwunden oder Injektionen. Der Mann hatte etwas auf seine Haut gezeichnet. Vittorio erinnert sich, von Kelten gelesen zu haben, von ihren Methoden, dauerhafte Kunst auf ihren Körpern zu erschaffen. Er erinnert sich an ein Wort, das er zuvor noch nie gehört hat. Ein Wort aus einer Zeit nach seiner eigenen. Tätowierung.
Aber warum würde sein Angreifer das tun? Er sieht sich die Zeichen an. Sie sind unvollständig. Die Herberge stürzte ein und Vittorio floh, bevor er sein Werk vollenden konnte.
Vielleicht haben diese Zeichen Kräfte, die denen meiner Symbole ähnlich sind. Er zeichnet sie auf dem Waldboden nach und wartet. Eine sanfte Brise im dichten Blattwerk. Keine andere Reaktion.
Seine Konzentration lässt nach. Vittorio hat seit vielen Tagen nichts mehr gegessen und sein Körper schmerzt vor Hunger. Ich konnte den Mann in der Robe kaum abwehren. Jede größere Bedrohung wäre mein Ende.
Er sucht nach etwas Essbarem und zwingt sich, eine Handvoll Blätter und Beeren hinunterzuwürgen. Sie brennen in seinem Hals, aber er fühlt, wie er wieder zu Kräften kommt. Das wird nicht lange anhalten. Ich brauche mehr. Vielleicht erwartet ihn in einem anderen Reich eine herzhafte Mahlzeit.
Er hält inne, bevor er die Symbole in die Erde ritzen kann. Zwischen den Bäumen erklingen Schreie. Vittorio läuft auf das Geräusch zu. Er weiß, dass er das nicht tun sollte. Aber diese Schreie klingen anders. Sie klingen nach zu Hause.
ERINNERUNG 119[]
Die Schreie bohren sich in Vittorios Ohren und tief in seinen Verstand, während er durch den Wald läuft. Ich kenne diese Stimmen. Fast fällt er in eine Grube voller Dornengestrüpp, so verzweifelt ist er. Er begutachtet die Grube für einen Moment und wundert sich über ihre Tiefe, bevor die Schreie ihn wieder zu sich rufen.
Vittorio kennt diese Stimmen. Er kennt ihre Schreie. Es sind die Schreie seiner Leute, als Kovács Schrecken und Verzweiflung in seine Heimat brachte. Tagelang hörte Vittorio nichts anderes in seiner kalten, dunklen Zelle. Nur Schreie, während die Leute, die er zu beschützen geschworen hatte, einer nach dem anderen niedergemetzelt wurden.
Eine Lichtung. Er überquert sie und die Schreie sitzen ihm immer noch im Nacken. Er kehrt zur Lichtung zurück und sieht hinab. Was ist das für eine Illusion zu meinen Füßen? Ein kleines Küken, das womöglich aus einem Nest gefallen ist. Der Vogel öffnet den Schnabel und die Schreie von Portoscuro ertönen.
Vittorio beugt sich über das elende Wesen. Er blinzelt, dann hält er den Vogel in seinen Händen. Er begutachtet ihn. So klein, so mitgenommen. Sein Magen meldet sich. Das Tier hat Fleisch auf den Knochen. Es schreit erneut. Hör auf. Hör auf zu schreien.
Sein Hals muss so zart sein. Ein Fingerzucken und die Schreie werden aufhören. Und dann kannst du essen.
Seine Hände zittern. Sie schließen sich enger um den Vogel. Dieser öffnet zum ersten Mal seine Augen. Große, feuchte Augen, voller Seele und Traurigkeit. Vittorio hält inne. Wie einfach es ist, dem Wahnsinn nachzugeben. Ein wenig Hunger und schon war ich bereit, einen harmlosen, kleinen Vogel zu töten.
Nein. Ich werde meine Prinzipien nicht vergessen.
Vittorio entspannt seine Finger und der Vogel schlägt seinen Schnabel in seine Handfläche. Er versucht, das Tier abzuschütteln. Es baumelt von seiner Hand, reißt seine Haut auf und trinkt sein Blut, ein elender Blutsauger, der mit jedem Schluck wächst. Schließlich packt er das Wesen und schleudert es in den Wald.
Das ausgewachsene Tier kehrt in einer Schwade rot-schwarzen Nebels zurück, ein angreifendes Ungeheuer mit Flügeln, die Bäume fällen, und einem Schnabel, von dem Blut tropft.
Es gibt keine Versteckmöglichkeit. Das Gebüsch ist zu dicht, um sich zurechtzufinden, doch das Tier bewegt sich mühelos und flink. Vittorio läuft den Weg entlang. Ein Zittern durchläuft seine Beine und er taumelt. Lauf weiter. Er schmiedet einen Plan. Ich spüre den Atem dieses Dings.
Das Tier schnappt nach seinem Rücken. Das Geräusch von zerreißendem Stoff. Der dumpfe Schmerz von austretendem Blut.
Er läuft nur einen Augenblick vor dem Untier um eine Ecke und sieht seinen Plan vor sich. Leben und Tod verbinden sich zu einem einzigen Moment. Eine Tat, die schneller vollzogen ist als ein Gedanke.
Er umgeht die Grube mit dem Dornengestrüpp, aber das Tier ist zu groß und zu schwer, um ihr auszuweichen, und stürzt hinein. Das Geräusch von brechenden Knochen, ein unmenschliches Kreischen – Vittorio muss an sein geliebtes Pferd Domenico denken.
Vittorio sieht zu, wie sich das Tier in der Grube windet, nach dem Rand greift, aber keinen Halt findet. Er setzt sich hin, isst ein paar Blätter und starrt dem Untier ohne zu blinzeln in die großen, zornigen Augen.
Die Suche nach den Beobachtern geht weiter.
Vittorio lässt sich Zeit, nimmt einen Zweig und ritzt seine Symbole in den Boden zu seinen Füßen. Dann lässt er das Untier zurück.
ERINNERUNG 120[]
Vittorio sieht sich in diesem neuen Reich um und weint.
Sie ist ganz anders als jede Speisekammer, die er je gesehen hat, aber trotzdem ist sie ganz eindeutig eine. Obst und Gemüse, vertrocknet und verfaulend. Trockenfleisch, das von der Decke baumelt und aushärtet. Haufen stinkender Butter auf einer leeren Eistruhe. Käseräder, die sich in den Regalen stapeln. Wasser tropft aus einem rostigen Hahn.
Er ignoriert das faulende Obst und Gemüse und konzentriert sich stattdessen auf das abgehangene Fleisch und den Käse. Die unberechenbaren Symbole haben mir dieses Mal ein wenig Freundlichkeit entgegengebracht.
Vittorio erinnert sich an den Anblick von wilden Hunden, wie sie den Kadaver einer Hirschkuh zerreißen. Als kleiner Junge hatte er das beobachtet. Das ist der einzige Gedanke, der sich in seinem Verstand formt, während er in blinder Manie isst und trinkt. Als er wieder zur Vernunft kommt, fühlt er plötzlich den Schmerz der Verletzungen, die er erlitten hat. Die Vogelbestie hatte seine Hand verwundet und ihren Schnabel in seinen Rücken geschlagen.
Er wäscht seine schwarz-roten Hände mit dem Wasser aus dem Hahn, das zum Glück rein ist. Sein Wams hängt zerfetzt von seinem Körper und reicht gerade mal als Tuch, um seinen Rücken abzuwischen.
Vittorio zieht das Wams aus und erschrickt, als er die Zeichen auf seiner Brust sieht. Es ist mehr als nur die kleine Tätowierung, die ihm sein Angreifer verpasst hat – wie lange war das jetzt schon her? Das Tattoo ist gewachsen und noch mehr Symbole und Zeichen breiten sich vom ersten Tattoo ausgehend über seinen Körper aus.
Er denkt nicht mehr daran, seinen Rücken zu reinigen, und begutachtet stattdessen die neuen Tätowierungen. Sie kommen ihm bekannt vor und es dauert nicht lange, bis sich Vittorio an eine Seite mit Runen aus seinen Recherchen erinnert. Er erkennt einige der Runen wieder, die seine Brust bedecken und sich bis zu seiner Schulter erstrecken.
Wächst die Tätowierung noch immer?
ERINNERUNG 121[]
Die einzige Tür aus der Speisekammer ist verschlossen. Egal. Als Vittorio seine bekannten Symbole mit Marmelade auf den Fliesenboden malt, betet er, dass sein nächstes Ziel so einladend wie dieses sein wird.
Er ist den Beobachtern noch nicht näher gekommen und findet sich in einem schlecht beleuchteten Zimmer wieder. Boden und Wände bestehen aus Lehm. Ich bin unter der Erde. Dreck fällt von oben herab und der Boden bebt. Über ihm ertönt eine laute Explosion.
Ich kann hier nicht bleiben. Er zittert. Ich bin fast nackt. Seine Augen fallen auf einen Haufen weggeworfener Kleidung. Ein bisschen Leder, ein bisschen grobes Leinen. Alles davon ist eine süße Erleichterung.
Die Kleidung, die er sich nimmt, ist ihm zu groß, aber wärmt ihn sofort. Eine weitere Explosion und Vittorio wischt sich die Erde ab, die auf ihn herabregnet.
Er sollte sich aufmachen. Vittorio gräbt seine Finger in die Lehmwand, hält aber inne, als er erkennt, dass er nicht allein ist.
Die Hände über den Kopf. Sofort.
Die Stimme ist heiser und überschlägt sich, als hätte ihr Besitzer etwas im Hals. Vittorio gehorcht. Dreh dich um. Sieh mich an.
Vittorio tut wie ihm geheißen und sieht sich einem gefiederten Soldaten gegenüber, rot und schwarz, mit einem auffälligen Schnabel und Augen in kreischendem Gold. Das Ding hat eine Waffe in der Hand, die Vittorio nicht versteht.
Was bist du? Vittorio kennt die Antwort bereits. Das Vogeluntier, das er vor Schmerzen schreiend in der Grube im Wald zurückgelassen hatte. Dieser Soldat sieht wie das Ergebnis irgendeiner gottlosen Verbindung zwischen diesem Untier und etwas aus, das vielleicht sogar als Mensch durchgehen könnte.
Kurz darauf kommen dem Soldaten andere seiner Art zu Hilfe und sie führen Vittorio einen engen Gang entlang. Sie stoßen ihn vorwärts und zwingen ihn, die Treppe zu einer offenen Luke in der Decke hinaufzugehen. Eine Tür zur Oberfläche. Vittorio zuckt bei den Explosionen, die die Landschaft an der Oberfläche zerstören. In der Ferne wütet ein Kampf und rund um ihn treiben uniformierte Bestien andere Menschen in Käfige und Wagen. Kriegsgefangene.
Nach seiner Flucht aus der Gefangenschaft ist er erneut zum Gefangenen geworden.
Ein vertrautes Kreischen durchbricht die Luft und die vogelähnlichen Soldaten halten inne. Sie fallen auf die Knie und blicken zu einem großen, geflügelten Giganten empor, der über ihnen schwebt. Seine roten und schwarzen Federn glänzen und sein Bein ist zwar verheilt, aber weiterhin unnatürlich verdreht.
ERINNERUNG 122[]
Seine Hände sind hinter seinem Rücken gefesselt, seine Fingerspitzen können sich kaum berühren. Der dicke Balken kratzt seinen Rücken auf, während er sich windet, und Vittorio fühlt, wie sich eine alte Wunde wieder öffnet, von der er gar nicht mehr weiß, wie lange er sie schon hat. Das große Untier hatte seinen spitzen Schnabel vor einer Ewigkeit in seinem Rücken versenkt. Jetzt will es die Jagd zu Ende bringen.
Andere Gefangene schreien in der Nähe. Vittorio versucht, sie auszublenden. Er streckt seine Arme nach hinten aus, so weit er kann. Es ist nur ein Seil, das ihn hier festhält. Seile kann man dehnen. Seile kann man zerreißen.
Ich werde mir die Symbole in die Handflächen ritzen, wenn das nötig ist.
Die Soldaten bellen einen Befehl und einer der Gefangenen schreit lauter als die anderen. Nicht hinsehen. Konzentrieren. Selbst mit nach unten gerichtetem Blick kann Vittorio das Beben der Erde spüren und das Federgewirr wahrnehmen, als das Untier landet. Nicht hinsehen. Eine schnelle Halsbewegung und der kreischende Gefangene ist nicht mehr da.
Der Riesenvogel schluckt, sein offener Schnabel ist himmelwärts gerichtet. Nicht hinsehen.
Ich hätte dieses Ding töten sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte. Ich hätte meine Faust um dieses gemeine kleine Küken schließen und zudrücken sollen, bis es sich nicht mehr bewegt. Dieser Albtraum ist meine Schuld.
Wie viele sind wegen meiner Fehler gestorben?
Er hört die Leute von Portoscuro wie damals in seiner Zelle. Ich kann mich an diese Zelle kaum noch erinnern. Aber ich erinnere mich an diese Schreie. Ich war der Grund für diese Schreie. Ich habe Kovács in meine Heimat gebracht. Ich dachte, ich könnte ihn kontrollieren. Ich dachte, ich könnte über die Reiche herrschen. Ich dachte, ich könnte die Beobachter finden.
Alles, was er weiß, hat sich als falsch herausgestellt. Und um ihn herum sieht er die Konsequenzen seines Versagens.
Etwas reißt. Seine Hände fallen zur Seite. Wie konnte ich dieses Seil zerreißen?
Das Untier beugt sich über ihn und blickt auf sein letztes Opfer hinab. Die anderen Gefangenen sind fort. Nur einer ist übrig.
Vittorio sieht zu seinem alten Widersacher empor. Sein Instinkt drängt ihn, wegzulaufen. Seine Symbole in die Erde zu ritzen und zu entkommen. Aber warum? Soll es doch einen letzten Tod geben, damit niemand sonst wegen meiner Fehler leiden muss.
Das Untier senkt den Kopf und alles wird dunkel und still.
ERINNERUNG 123[]
Du bist es. Ich erinnere mich an dich aus längst vergangenen Zeiten.
Vittorio erwacht und sieht ein freundliches Gesicht, das zu ihm hinunterblickt. Ein bekanntes Gesicht. Sie war einst eine Leere für ihn, ist nun aber etwas anderes.
Ja, ich erinnere mich. Ich war schon einmal hier. Vittorio setzt sich auf und wischt den Schmutz von seinen Beinen. Die eingebrochene Treppe. Die eingestürzte Decke. Was war das?
Die Herberge. Sie streicht ihm mit verkrümmten Fingern übers Gesicht. Ich wurde verschlungen. Verspeist.
Ja. Er spürt ihr Mitleid. Ich auch. Der geflügelte Dämon ist ein Wesen aus dem Abgrund. Es labt sich an Welten, obwohl der Wind mir sagt, dass es Wesen gibt, die noch stärker sind. Mit größerem Appetit.
Der Raum bebt. Etwas regt sich vor der Herberge.
Ich muss hier weg. Ich muss hier raus. Vittorio springt auf die Füße und greift nach der Tür. Selbst mit großer Anstrengung kann er sie nicht bewegen. Moment, lass mich helfen. Die Frau legt sanft eine Hand auf die Tür und sie gehorcht.
Aber auf der anderen Seite der Tür ist kein „draußen“. Mehr Erinnerungen regen sich in seinem Inneren. Ein Ort, der nicht so fern ist wie die Herberge, aber dennoch weit weg. Der Geruch des Ortes ist ihm am vertrautesten. Verderbendes Obst und Gemüse. Trocknendes Fleisch. Zerrissene Käseräder. Ein rostiger Zapfhahn, von dem das Wasser noch klar tropft.
Ich war hungrig und labte mich in dieser Speisekammer. Warum ist sie hier?
Ein weiteres Reich verschlungen. Sie hält die verderbenden Lebensmittel. Vittorio lehnt sich an die Wand. Was geschehen ist, ist geschehen. Es gibt kein Entkommen.
Was ist das? Die Frau streicht über seine Tunika. Eine schnelle Bewegung und sie gleitet von seinen Schultern. Ihre Hände berühren seine Brust. Seine Arme. Diese Zeichnungen.
Vittorio sieht an sich herab und erkennt, wie weit die Tätowierungen gewachsen sind. Sie erstrecken sich über seinen Oberkörper, seinen Arm hinunter. Die Frau geht um ihn herum, streicht mit ihren Händen über seinen Rücken. Sind dort auch welche?
Der Mann in der Robe. Er hat die Saat in deiner Brust gepflanzt. Wie lange sie zum Wachsen gebraucht hat.
Vittorio zieht sich wieder an. Mein Angreifer. Ist er hier? Nein. Er hat mich kurz nach dir verlassen. Er hat eine Notiz hinterlassen. Vielleicht wusste er, dass du sie dir ansehen würdest, wenn die Zeit gekommen wäre.
Sie überreicht ihm eine Papyrusrolle. Keine Grußworte stehen auf dem Blatt. Keine Nachricht, die er verstehen kann. Nur noch mehr Symbole. Dieser Wahnsinnige hat nicht mal fertiggeschrieben. Vittorio hat genug von diesen Symbolen gesehen, um zu wissen, dass die Symbole auf der Seite nicht vollständig sind.
Unvollständig. Das Wort weckt eine Erinnerung. Die Tätowierung, die der Angreifer auf ihm hinterlassen hat. Die Saat in seiner Brust. Vittorio hatte versucht, diese Symbole zu verwenden, aber auch sie waren unvollständig.
Das Blut an seinen Fingern ist getrocknet. Er leckt alte Wunden, kratzt an Krusten und erschafft so neue rote Tinte. Vittorio streicht über die Papyrusrolle und zeichnet die Saat, die in seiner Brust gepflanzt wurde. Die Nachricht ist ein Rätsel, das er lösen muss. Und diese erste Tätowierung ist das fehlende Stück.
Der Raum um ihn beginnt zu schimmern. Vor seinem inneren Auge sieht er einen weit entfernten Ort. Ein bedrohlicher Haken, der von einem Gestell baumelt. Der Mann in der Robe. Er greift nach ihm. Drängt ihn, weiterzugehen.
ERINNERUNG 124[]
Vittorio läuft auf und ab, in seinem Kopf formt sich eine Offenbarung.
Er ist es gewesen. Ich habe unzählige Jahre damit verbracht, die Beobachter zu suchen, dabei hat ein Beobachter mich schon vor langer Zeit gefunden. Ich wollte nur an ihrem Wissen teilhaben, und es befand sich die ganze Zeit über auf meinem Körper. Er hat mich nicht angegriffen. Er hat mir ein Geschenk gemacht.
Er hat mich auserwählt.
Vittorio spürt, dass die Frau ihn beobachtet, als er die Speisekammer betritt. Er hört nur das tiefe Grollen und Beben von draußen. In einer Schublade findet er ein Messer.
Ich muss meine Reise fortsetzen. Der Beobachter hat mich ausgewählt. Ich werde von hier entkommen und sein Reich finden. Ich muss nur sein Zeichen kopieren.
Die Papyrusrolle war in seinen Händen, ist jetzt aber weg. Ich verliere wohl den Verstand. Er versucht, sich an die Symbole in ihrer Gesamtheit zu erinnern, aber sie entrinnen ihm, als würde er aus einem Traum erwachen. Er lacht bitter auf und erinnert sich an das, was er schon weiß: Das Streben nach Wissen ist niemals einfach.
Die alten Symbole werden nicht ausreichen. Sie haben mir nie die Macht gegeben, nach Belieben zu reisen. Die Reiche, die ich durch sie betreten habe, waren zufällig und oft albtraumhaft. Irgendwo auf meinem Körper befindet sich der Schlüssel zur vollständigen Kontrolle über das Reisen durch die Reiche. Irgendwo auf meinem Körper sind die Symbole, die mich zu diesem Beobachter bringen werden, zu seinem Reich und in die perfekte Welt, die dort draußen irgendwo wartet.
Er stellt sich vor einen zerbrochenen Spiegel und begutachtet seine Brust, seinen Oberkörper, seine Arme und seinen Rücken. Das Gekritzel ist unleserlich, unbekannt. Ich muss sehr vorsichtig sein. Diese Symbole könnten mein Verderben bedeuten, wenn ich sie nicht richtig verwende.
Und da sieht er es. Die vertrauten Wirbel und Kreise, die er bisher verwendet hat. Die Symbole für das Reisen zwischen zufälligen Reichen. Aber da ist noch mehr. Zackige Linien und kleinere Formen, wie Akzente rund um die Symbole. Sie modifizieren sie. Verändern ihre Bedeutung.
Plötzlich ist ihm alles klar. Das ist der Schlüssel, nach dem ich gesucht habe.
Vittorio drückt die Klinge des Messers in die Wand der Herberge und beginnt zu schnitzen. Ein kehliges Kreischen hallt durch das Zimmer. Blut quillt aus den Schnitzereien und läuft die Wand hinab.
Ich war noch nie gewalttätig. In meinem ganzen Leben habe ich nie jemandem Leid zugefügt. Ich musste es nie tun. Das war der Luxus des Lebens, wie ich es kannte. Aber dieses Leben liegt jetzt hinter mir.
Präzise führt er das Messer über die Wand und erinnert sich an jeden Akzent und jedes Detail, von denen er nie wusste, dass er sie brauchte. Die Wände beben. Das Blut fließt weiter. Das Klagen wird schlimmer.
Vittorio spürt ihre Lippen an seinem Ohr. Du hast jetzt die Macht. Vorerst.
Und dann ist sie fort.
ERINNERUNG 125[]
Die Sonne geht hinter fernen Hügeln unter und die Luft ist von Schwefelgeruch erfüllt, als Vittorio seine Augen öffnet und eine einfache Holzhütte vor sich erblickt.
Der Boden unter seinen Füßen fühlt sich breiig an. Vittorio sieht sich um und stellt fest, dass er auf einem Hügel aus Blut, Innereien und schwarzen und roten Federn steht. Zwischen ihm und der Hütte liegt der Kopf des verdammten Untiers, Blut sammelt sich unter seinem durchtrennten Hals.
Vittorio blickt zum Himmel und stößt einen Schrei des Triumphs aus. Das Geschöpf aus dem Abgrund liegt tot zu meinen Füßen und ich lebe noch.
Der Beobachter wollte, dass ich hierherkomme. Die Symbole in ihrer Vollkommenheit haben mich hierhergebracht, zu dieser Hütte. Ein Durchgang zu seinem eigenen Reich? Ich muss mehr erfahren.
Vittorio öffnet die Tür und findet eine Treppe, die in die Erde hinabführt.
Der Raum am Ende der Treppe ist dunkel und zu weit unten, als dass das Licht der untergehenden Sonne ihn erreichen könnte. Vittorio tastet sich durch die stille Dunkelheit, bis er die Form eines Kerzenleuchters erkennt. Mit einer Berührung erwacht er zum Leben und eine Flamme tanzt auf dem Doch.
Eine Kerze, die sich von selbst entzündet. Genial.
Unter Schichten von Staub und Spinnennetzen erkennt Vittorio stählerne Gerätschaften, hölzerne Rätselkisten und Gläser mit exotischen Flüssigkeiten.
Er sucht den Raum nach weiteren Kerzen ab, die er anzündet, bis der ganze Raum erhellt ist.
Die Werkstatt. Genau, wie sie in meinen Unterlagen beschrieben wurde. Jahrhundertealtes Wissen aus anderen Welten auf schmuckvollen Regalen. Der Beobachter hat mich auserwählt und von hier aus werde ich ihm in sein Reich folgen.
Ein Buch auf dem Schreibtisch zieht seine Aufmerksamkeit auf sich. Die Symbole auf dem Einband. Die Symbole auf seiner Brust. Sie sind nicht identisch, aber fast.
Vittorio streicht den Staub vom Buch und ist überrascht von der Beschaffenheit der Seiten. Altes, zähes Leder, jede einzelne Seite, und jede davon ist mit tätowierten Symbolen bedeckt.
Er lässt das Buch fallen und weicht zurück. Nein. Keine Seiten. Haut. Menschliche Haut, die zu einem Buch gebunden wurde. Tätowierte Haut wie seine.
Vittorio steht alleine in der Werkstatt und fühlt sich von der Weite der Reiche erdrückt.
Tarhos Kovács: Nichts außer Dunkelheit[]
ERINNERUNG 151[]
Sein Dorf brennt. Reitende Krieger schwingen ihre Schwerter. Äxte spalten Schädel. Es wird abgeschlachtet. Niedergemetzelt. Sein Vater kämpft draußen. Seine Mutter bereitet etwas auf dem kleinen Holztisch zu. Die Schreie werden immer lauter. Er starrt seine Mutter an. Keine Sorge. Keine Panik. Keine Furcht. Ihre Gesichtszüge sind hart und entschlossen, während sie ein dickflüssiges, schwarzes Elixier zubereitet, das ihnen, wie sie sagt, helfen soll, diesen Wahnsinn einfach zu verschlafen. Sie ist ihre Stärke. Sie ist seine Stärke. Er hat sie noch nie so gesehen und er fühlt sich trotz des Chaos und des Gemetzels vor ihrer kleinen, strohgedeckten Hütte sicher. Seine Mutter überreicht seinen Brüdern und seiner Schwester kleine Becher mit dem Elixier. Sie wendet sich Tarhos mit einem ermutigenden Nicken zu. Sie hilft ihm, seinen Anteil zu trinken, und verspricht ihm, dass alles so sein wird, wie es sein soll. Das bittere, dickflüssige Elixier läuft langsam seine Kehle hinab, während die Rufe und Schreie und Kampfgeräusche draußen an- und abschwellen. Dann spürt er es. Die Taubheit breitet sich von seinen Lippen bis zu seinen Füßen aus. Gesichter verschwimmen. Geräusche werden leiser. Und eine tintenschwarze Dunkelheit breitet sich vor seinen Augen aus, während er in der warmen Umarmung seiner Mutter einschläft. Dann ist alles still.
Als er wieder aufwacht, erdrückt ihn das Gewicht von zerfleischten und verstümmelten Körpern beinahe. Augen, die nichts mehr sehen. Aufgeschlitzte Hälse. Seltsame Geräusche rings um ihn. Pferde wiehern. Kinder weinen. Ritter lachen und feiern. Der junge Tarhos blickt zu einem grausigen Gesicht, das sich gegen seines drückt. Er bewegt sich etwas und kneift die Augen zusammen. Die verschwommenen Gesichtszüge ergeben plötzlich seinen Onkel. Seine Augen sind weit aufgerissen und voller Furcht, sein Mund ist zu einem Todesschrei erstarrt. Tarhos weiß, dass er Angst haben sollte. Er weiß, dass er traurig sein sollte, aber das ist er nicht. Und er weiß, dass er sich schuldig fühlen sollte, weil er nicht traurig ist, aber er hat keine Schuldgefühle. Was er fühlt, kann er nicht verstehen und nicht in Worte fassen. Er starrt auf das Grauen, das sich vor ihm abspielt, ohne zu zucken. Plötzlich packt eine Hand seinen Arm und zieht ihn aus dem Haufen. Und während er davongetragen wird, starrt er voller Faszination auf sein brennendes Dorf, während ein hohes Heulen seine Ohren erfüllt.
ERINNERUNG 152[]
In voller Rüstung reitet Tarhos durch das Gebirge nach Portugal. Der Fürst, dem er dient, glaubt, dass ein Relikt – der Stein Lapis Paradisus – tief in den Katakomben unter der Stadt Sintra vergraben liegt. Toscano behauptet, dass er es nicht auf Reichtum abgesehen hat, sondern auf Hoffnung. Er hegt die Hoffnung, dass dieser Stein ihn in eine andere Welt führen kann, die das Wissen birgt, um diese Welt zu retten. Er betet, dass dieses verlorene Wissen der alten Wächter Frieden, Harmonie und Ordnung in eine Welt bringen kann, die von Grausamkeit, Gewalt und Ungleichgewicht heimgesucht wird. Tarhos findet die Vorstellung von einer Welt ohne Gewalt lächerlich. Das Leben ist Gewalt, von der Geburt bis zum Tod, und alles dazwischen ist ein vergeblicher Versuch der Feiglinge, sich vor dem Grauen zu verstecken, das das Leben ausmacht. Die einzige Seuche in dieser Welt sind die Lügen, die unnatürlichen Kodizes und Gesetze, die Adelige und Herrscher für ihren eigenen Vorteil erfunden haben. Unnatürliche Gesetze und Kodizes und Bücher, die die Wahrheit der Welt nicht anerkennen und versuchen, sie zu etwas zu machen, das sie nicht ist.
Tarhos glaubt etwas anderes. Entweder es ist alles gut, oder nichts ist es. Entweder es ist alles böse, oder nichts ist es. Es ist alles Teil desselben kosmischen Schlamms, des Geheimnisses, das die Welt und alle ihre Zweischneidigkeiten übersteigt. Ein Geheimnis, das er nie vorgegeben hat zu verstehen, aber das er sein ganzes Leben lang mit seinem Schwert und seiner Abneigung gegenüber jenen, die mit ihren Gesetzen das Abschlachten ehrenwert machen wollen, bekräftigt hat. Sie alle sind scheinheilig. Er nicht. Er kennt keine Schuldgefühle, keine Scham und kein Verlangen, sich vor dem Leben zu verstecken. Jetzt bleibt Toscano vor einem Dorf stehen und sieht Wächter, die den Eingang der Katakomben beschützen. Er seufzt tief und schüttelt den Kopf. Er will das Blut von Unschuldigen nicht vergießen. Während er sein Pferd wendet, befiehlt er Tarhos, einen anderen Weg zu finden.
ERINNERUNG 153[]
Finde einen anderen Weg! Ekel durchfährt ihn wie ein Schwert. Er fühlt, wie die Klinge seine Brust durchbohrt und den Atem aus seinen Lungen drückt. Er hat keine Worte für diesen Befehl. Er kann nur herausfordernd starren. Einen anderen Weg finden? Warum? Damit Toscano nachts schlafen kann? Damit er noch mehr Zeit mit seinen dummen Ideen von richtig und falsch, gut und böse, edel und barbarisch verschwenden kann. Toscanos gesamtes Vermögen war durch Gewalt und Gemetzel erworben worden, gerechtfertigt durch erfinderische Kodizes und raffinierte Gesetze. Sein Vermögen hatte er durch nichts als Dunkelheit erlangt. Tarhos knirscht mit den Zähnen, während Ekel zu Hass wird.
Und er fühlt noch etwas anderes.
Er fühlt, dass Toscano die Güter seiner Vorfahren oder seine Relikte oder diesen uralten Stein, der irgendwie ein Tor in eine gewaltfreie Welt öffnen wird, nicht verdient hat. Er ist ein Narr, wenn er das wirklich glaubt! So einen Ort gibt es nicht! Und sollte es so einen Ort doch geben, würde er nichts damit zu tun haben wollen. Er seufzt und ballt die Faust. Er will ihn wie eine Made zermalmen. Von all den Herren, denen er gedient hat, hasst er ihn am meisten. Er hat genug von seinen Vorstellungen von uralten Wächtern und ihrem angeblichen überlegenen Wissen gehört. Und während er zusieht, wie Toscano mit seinem Gefolge davonreitet, fasst er einen Entschluss ...
Er wird sich alles nehmen!
Er wird sich alles nehmen, weil er es kann.
Er wird sich seinen Stein und seine Relikte und seine Stadt nehmen und wird diesem verdammten Feigling die wahre Welt zeigen – die Wahrheit, die er in seinem Herzen immer gekannt hat. Und niemand wird ihn aufhalten. Nicht die Wachen im Dorf und bestimmt nicht die drei Ritter, die Toscano zurückgelassen hat. Ohne zu zögern steigt Tarhos von seinem Pferd und zieht sein Schwert mit einem schrecklichen Klirren.
ERINNERUNG 154[]
Während die Sonne langsam untergeht, kämpft Tarhos gegen die drei Ritter. Sie greifen gemeinsam an und erliegen der Reihe nach seiner vor Blut triefenden Klinge. Ein Ritter weigert sich zu sterben und steht noch aufrecht, sein rechter Arm hängt nur noch an Sehnen von seinem Körper. Er packt sein blutiges Schwert mit der Linken und greift an. Tarhos weicht aus und drückt sein Schwert durch das Kettenhemd in seine Brust. Der Ritter keucht, stürzt auf die Knie, murmelt ein paar letzte Worte voller Todesfurcht und sinkt in den Staub. Dann wendet sich Tarhos dem Dorf zu. Die Augen von Dutzenden Wächtern ruhen auf ihm. Von den Schatten aus beobachten sie ihn, wie er auf die alten Katakomben von Sintra zumarschiert.
ERINNERUNG 155[]
Die Wächter stehen vor der alten Tür. Stramme junge Männer mit primitiven Schwertern. Tarhos sieht die Furcht in ihren Augen, als sie ihre Fackeln heben, um zu sehen, wer es wagt, sie herauszufordern. Mit seinen fast zwei Metern weiß Tarhos, dass er eine stattliche Figur abgibt. Er befiehlt ihnen, aus dem Weg zu gehen. Aber die Wächter ziehen ihre Waffen und Tarhos fühlt, wie die Dunkelheit aus seinem Herz und in seine Adern fließt. Er nimmt sein Schwert fest in die Hand, während sich ihm die Wachen aus allen Richtungen nähern. Furchtlos wirft er einen Blick in die Runde. Dann ruft eine Wache irgendeinen Unsinn über Ehre und Dinge, die heilig sind, und alle schreien ihren Ärger gemeinsam heraus und greifen an.
Die Zeit verlangsamt sich, während Tarhos sich durch die Reihen der Wachen kämpft. Sein Schwert leuchtet in der ständigen Bewegung in der untergehenden Sonne, während er herumwirbelt, Gliedmaßen abtrennt, Rücken einschlägt und Hälse durchtrennt. Die Wachen schreien und stürmen voran, der Drang, die Toten zu beschützen, gibt ihnen Energie. In Tarhos brennt ein stärkeres Feuer, das Leben mit all seinen Schmerzen, Qualen und seinem Grauen zu bekräftigen. Der letzte lebende Wächter rennt um sein Leben und fleht schreiend um Gnade. Tarhos streckt ihn nieder und wendet sich mit einem bösen Lächeln der alten Holztür zu. Er wischt das Blut von seiner Klinge, hebt eine der heruntergefallenen Fackeln auf und betritt die Dunkelheit.
ERINNERUNG 156[]
Der Tod umgibt ihn. Erfüllt seine Nasenlöcher. Nicht das sich zersetzende Fleisch von jenen, die in den letzten Jahrhunderten hier bestattet wurden, sondern die verfaulenden Körper der Nagetiere und des Ungeziefers, die diese Totenstadt ihr Zuhause nennen. Seine Fackel erhellt die alten Wände, die aus Steinen und Schädeln und Knochen bestehen, welche zu seltsam kunstvollen Werken angeordnet wurden. Er fühlt die Anwesenheit unzähliger verlorener und entsetzter Seelen. Feiglinge, jeder einzelne. Er findet ein Skelett, das von einem Speer durchbohrt wurde, der aus der Wand gefahren kam. Eine uralte Falle, die Schatzsucher abhalten sollte, den Stein zu finden. Er findet die Überreste anderer toter Abenteurer. In Gruben voller Stacheln. Von Felsen zerquetscht. Von schwingenden Klingen halbiert. Er fühlt eine Präsenz, die ihn leitet. Dunkel. Kalt. Uralt. Ein Pflasterstein klickt unter seinem Gewicht und eine rasiermesserscharfe Sense schießt in einem tödlichen Bogen aus der Mauer. Er lässt sich zu Boden fallen, während die Klinge über ihn hinwegzischt und seinen Kopf nur knapp verfehlt.
Tarhos verbrennt Spinnweben mit seiner Fackel. Die klebrigen Fäden hängen an ihm, während er sich weiter vorwagt. Riesige Spinnen, pelzig und dick, krabbeln über seine Rüstung und suchen nach Fleisch. Mit seiner Fackel verscheucht er sie und setzt sie damit in Brand. In einer anderen Höhle schreckt er eine Riesenfamilie von Fledermäusen auf. Sie kreischen und flattern und fliegen gegen Tarhos, während sie ungeordnet fliehen. Fast hätten sie ihn dabei zu Boden gedrückt. Schweiß brennt in seinen Augen und er blinzelt ihn weg, als er weiterzieht. Unter seinen Füßen öffnet sich eine Falltür und er stürzt hindurch. Er hält sich am Rand fest. Kann sich gerade so festklammern. Das gesamte Gewicht seiner Rüstung zieht ihn nach unten und er muss seine ganze Kraft aufwenden, um sich in Sicherheit zu bringen. Schließlich befindet er sich auf einem engen Pfad zu einem alten, verzierten Grabmal. Mühevoll schiebt er den Stein, der es bedeckt, zur Seite. Darin findet er ein Skelett eines uralten Kriegers in seiner Rüstung. Das Metall ist angelaufen, aber nicht rostig, und ein großer Steintalisman liegt auf der Brustplatte des Kriegers. Der Lapis Paradisus.
ERINNERUNG 157[]
Tarhos verfolgt seine Schritte zurück, während seine Fackel immer schwächer wird und schließlich erlischt. Er ist von völliger Dunkelheit umgeben. Er tastet sich voran, an denselben tödlichen Hindernissen vorbei. Er umgeht die Gruben. Er umgeht die Klingen. Unzählige Spinnen huschen über seine Rüstung und suchen nach einem Weg hinein. Er bemerkt ein schwaches Leuchten, das immer stärker wird, bis er endlich aus den Katakomben tritt. Mit neuer Kraft kämpft er gegen die paar überlebenden Wachen, während er durch das Dorf zieht, sein Pferd findet und in die Dunkelheit aufbricht.
Bei seiner Rückkehr ins Lager findet Tarhos Dutzende Krieger und Ritter vor, die nur darauf warten, ihn für seine Ehrlosigkeit bezahlen zu lassen. Sie greifen mit fürchterlichem Gebrüll an. Tarhos weicht den tödlichen Hieben aus und spürt seine Ermüdung. Er weiß, dass sie seiner Stärke überlegen sind. Aber Tarhos weiß auch, dass er sie nicht mit Stärke besiegen wird. Auch nicht mit seinem Können. Er ist nur ein Gefäß für die Dunkelheit. Und die Dunkelheit, die von seinem Können und seiner Größe geformt wird, kämpft durch ihn, trennt Köpfe und Gliedmaßen ab und zerteilt Rümpfe wie ein Wesen mit einer Seele. Wie etwas Göttliches. Toscano betritt das Chaos und schreit, dass diese Gewalt ein Ende nehmen muss. Tarhos hält den Talisman hoch und Toscanos Augen weiten sich, als sie die arkanen Symbole wahrnehmen.
Wenn du ihn willst, musst du ihn dir holen. Knie vor mir nieder oder stelle dich meinem Schwert.
Sofort befiehlt Toscano seinen Männern, die Schwerter zu senken, denn er will nicht für noch mehr Blutvergießen verantwortlich sein. Sie alle knien nieder und neigen ihre Köpfe, während Tarhos Toscano gefangen nimmt.
ERINNERUNG 158[]
Tarhos betritt das Verlies und baut sich bedrohlich vor Toscano auf, der im Schneidersitz zwischen verwesenden Gliedmaßen, Köpfen und Schwärmen von Maden sitzt. Toscano blickt zu Tarhos hoch, dann fällt sein beunruhigter Blick auf einen tropfenden Korb in seinen Händen. Tarhos geht vor Toscano in die Hocke und öffnet den Korb, als wolle er Brot und Wein mit seinem Gefangenen teilen. Doch anstelle von Essen und Getränken zieht er einen Kopf hervor, studiert ihn kurz und fragt dann nach seinem Namen.
Cavalieri.
Tarhos legt den Kopf auf einen Haufen von verfaulenden Köpfen, sodass die weit aufgerissenen Augen Toscano anstarren. Dann zieht er einen weiteren abgetrennten Kopf heraus.
Arno.
Er war ein Feigling. Du hättest hören sollen, wie er gebettelt hat.
Tarhos holt zwei weitere blutige Köpfe heraus und platziert sie so, dass sie ihren Fürsten mit vor Schreck geweiteten Augen anstarren. Dann zieht er den letzten Kopf heraus und hält ihn ins tanzende Fackellicht.
Ihn mochte ich. Er hat nicht gebettelt. Ich glaube, den behalte ich.
Tarhos legt den Kopf zurück in den Korb. Er starrt Toscano einen langen Moment lang an, dann steht er auf und verlässt das Verlies. Toscano bleibt mit einigen neuen Köpfen zurück, die ihm Gesellschaft leisten und vielleicht seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen, wo er seine geheimen Bücher und Relikte versteckt hält. Bücher und Relikte, die angeblich aus einer anderen Welt stammen. Einer Welt, die als perfekt beschrieben wurde. Für Tarhos konnte das nur eine Welt ohne die Lügen und Heucheleien der Zivilisation sein.
ERINNERUNG 159[]
Tarhos geht auf die Verliestür zu, öffnet sie aber nicht. Durch eine kleine Öffnung starrt er Toscano an, der inmitten der Maden auf dem Boden liegt. Eine dichte Wolke aus Fliegen erschwert ihm die Sicht.
Ich hätte gedacht, du hättest die Maden inzwischen zerquetscht, anstatt Seite an Seite mit ihnen zu leben.
Toscanos Augenlider öffnen sich langsam, aber er antwortet nicht.
Die Adeligen bereiten ihren Angriff auf mich vor. Und warum? Weil ich tue, was sie tun, nur ohne die Lügen. Sie sagen ... sie sagen, ich wäre verrückt.
Tarhos lacht verächtlich.
Wirke ich verrückt auf dich? Das Leben ist verrückt und ich nehme es so an, wie es ist – also was das angeht, bin ich vielleicht verrückt.
Tarhos öffnet die Tür, betritt langsam den Raum und zerstampft mehrere Maden, während er im kleinen Verlies auf und ab geht.
Ich erinnere mich an ein Dorf, das wir dem Erdboden gleichgemacht haben, weil ein Mann von einem Adeligen gestohlen hatte. Das gesamte Dorf war zerstört und alle Einwohner wurden in Stücke gehackt, nur wegen ein paar gestohlener Äpfel. So viel Leid und Tod nur wegen des Hungers des einen und des Egos des anderen Mannes. Das ist die Geschichte der Welt.
Tarhos fixiert Toscano, der nichts sagt.
Ich hatte nichts gegen das Töten. Aber das Lob und die Anerkennung für unsere gerechten und frommen Taten gingen mir gegen den Strich. Solches Gerede ist der wahre Wahnsinn.
Tarhos schreitet durch einen Schwarm von Fliegen und kommt näher auf Toscano zu. Er blickt auf die in den Boden geritzten Symbole und lacht in sich hinein.
ERINNERUNG 160[]
Tarhos betritt das Verlies, hockt sich neben Toscano und reicht ihm einen Holzkübel mit warmem Wasser. Er sieht zu, wie sein Gefangener das Wasser trinkt, und lächelt dann, während er die wachsende Sammlung von Symbolen auf dem Boden betrachtet.
Du solltest sehen, was ich mit der Stadt gemacht habe. Ich habe ähnliche Symbole mit Leichen gelegt und vor Kurzem habe ich meine ziemlich beeindruckende Darstellung um alte Rivalen erweitert. Außerdem helfen mir alte Freunde bei den Vorbereitungen auf einen Kampf gegen eine kleine Armee, die sich aus allen Richtungen auf uns zubewegt. Eine rechtschaffene Armee, die meinen Gräueltaten ein Ende setzen will.
Tarhos atmet den Gestank von verfaulenden Menschen ein.
Aber irgendetwas sagt mir, dass sie nicht kommen werden, um mich zu holen. Soweit ich weiß ... trachten ein paar Adelige nach dem, was du vor mir versteckst ... was für mich die Frage aufwirft ... was genau du vor mir versteckst. Ich habe den Adeligen den Stein angeboten, aber der schien sie überhaupt nicht zu interessieren. Was macht dieses Wissen, das du vor uns verbirgst, so besonders?
Tarhos wischt einen Haufen Maden vom Boden, um ein Symbol freizulegen.
Nicht dieses Wissen über eine perfekte Welt?
Tarhos stößt ein höhnisches Lachen aus.
Was du in all deiner Weisheit nicht erkennst, ist, dass die Welt schon perfekt ist.Das ist sie ... und wenn du das hier und jetzt nicht verstehst, ist es ganz egal, wo du endest oder welches Wissen du noch findest, du wirst immer nach mehr suchen.
Tarhos sieht Toscano lange nachdenklich an.
Das Paradies kommt, wenn du Frieden mit dem Leben, so wie es jetzt ist, geschlossen hast und nicht mit der Version, die du dir vorstellst. Wenn du das Grauen annimmst, anstatt vor ihm davonzulaufen. Nur wenn du das schaffst, erkennst du den Wahnsinn in deinem Unterfangen. In deiner vergeblichen Suche nach Wissen. Deiner albernen Weigerung, ein Leben zu nehmen – selbst wenn es nur das Leben einer kriechenden Made ist.
Tarhos ballt seine Hand zur Faust und zerschmettert mehrere Maden zu einer sich windenden, weißen Paste. Dann zieht er die einzelnen Teile von seiner Hand, begutachtet sie neugierig und schnippt sie in den offenen Mund eines abgetrennten Kopfes. Er blickt den Kopf in Erinnerungen versunken an.
Es gab einmal ein Dorf, relativ weit weg von hier. Eine kleine Armee fiel in dieses Dorf ein mit einer Mission; ich vermute, um die Barbaren abzuschlachten ... um diese Welt besser zu machen. Statt von einem Fremden getötet oder zu Sklaven gemacht zu werden, hatten diese Dorfbewohner beschlossen, durch die eigene Hand zu sterben.
Tarhos hebt ein paar weitere Maden auf und wirft sie in den Mund.
Ich weiß noch, wie eine Mutter ihre Familie ohne Zögern oder Reue vergiftet hat. Die Liebe und Willensstärke, die dafür notwendig sein musste, sind Eigenschaften, die ich in all meinen Jahren auf dem Schlachtfeld und abseits davon nicht gesehen habe. Ich habe mein ganzes Leben unter Adeligen und Rittern verbracht, und ich habe nichts als Feigheit gesehen, die von einem fauligen Gemisch aus Lügen und Scheinheiligkeit umgeben ist.
Tarhos wirft eine letzte Made in den verfaulenden Mund, steht auf, geht durch eine dicke Wolke aus Fliegen und hält in der fackelbeschienen Tür noch einmal inne.
Ich habe niemanden getroffen, der ihr ebenbürtig ist.
Dann lässt er die Tür knallend ins Schloss fallen und lässt Toscano in der Dunkelheit zurück.
Logs, Geschichten und Notizen: Das Haus Arkham[]
Legende des roten Kranichs. 1.[]
Was seltsam war, überlegte Saku, war, dass sie nicht zu altern schien. Sie war auf der Suche nach ihren Feinden durch die Mannigreiche gereist und es schien ihr, als wären Tausende von Jahrhunderten vergangen, aber sie fühlte sich keinen Tag älter. Es gab so viel, das sie immer noch nicht verstand. Sie hatte von anderen Welten und Menschen und ihren einzigartigen Kulturen und Sprachen erfahren, und obwohl sie viel über diese verschiedenen Welten wusste, wusste sie nur wenig über die Mannigreiche. Diesen dunklen und geheimnisvollen Ort aus Albträumen, den sie unabsichtlich vor langer Zeit betreten hatte, als sie die Anhänger der schwarzen Schlange durch einen Nebelschleier verfolgt hatte. Saku hatte zwölf der einundzwanzig Anhänger aufgespürt und getötet. Neun waren noch übrig. Aber Saku machte sich keine Sorgen. Früher oder später würde sie sie in die Finger bekommen. Irgendwie war die Zeit auf ihrer Seite.
Jetzt folgte Saku Leisten von blaugefärbtem Licht entlang von Gleisen durch dunkle Betontunnel, die mit Graffiti besprüht waren. Sie blieb stehen, als sich ihr ein helles Licht näherte. Schnell sprang sie zur Seite und suchte Halt auf einer Kante, als ein Zug voller Leichen an ihr vorbeiraste. Sein Luftsog brachte den Gestank von verderbendem Fleisch mit sich.
Nachdem der Zug vorbeigefahren war, sprang Saku zurück auf die Gleise und setzte ihren Weg durch die Dunkelheit fort. Sie folgte den leuchtenden blauen Leisten, während der Nebel immer dichter wurde und sie Krähen in der Ferne krächzen hörte. Instinktiv griff sie nach dem Heft ihres Katanas, als Dutzende Kannibalen mit leuchtend roten Augen und verfaulten Zähnen sie plötzlich umzingelten.
Langsam näherten sie sich ihr. Dann griffen sie mit einem fürchterlichen Schrei an. Sie wich mehreren Hieben mit primitiven Waffen aus und wich zurück. Als sie erneut auf sie zustürmten, zog sie ihr Katana und wurde zu einem Sturm aus Blut.
Mit unglaublicher Geschwindigkeit mähte Saku die Menge wie Unkraut nieder. Sie kämpfte zwanzig Runden, bevor alles vorbei war. Dann wischte sie ihr Katana ab und ging davon, ohne sich noch einmal umzusehen, während das Geräusch der Krähen, die sich am frischen Fleisch gütlich taten, im Tunnel widerhallte.
Vorsichtig folgte Saku den Gleisen und blieb erst stehen, als sie eine Stimme hörte, die um Hilfe rief. Sie kannte die Stimme nicht, doch irgendwie schien sie aus allen Richtungen zu kommen, als wäre sie in ihrem Kopf.
Saku drehte sich immer wieder im Kreis, konnte aber niemanden sehen. Sie atmete tief ein und folgerte, dass die Welt ihr wieder einmal einen Streich spielte, wie so oft. Sie ignorierte die Stimme und setzte ihre Reise im Untergrund fort. Als sie den Tunnel verließ, fand sie sich in einem Ozean aus Nebel wieder und betrat ein anderes Reich.
Legende des roten Kranichs. 2.[]
Nachdem sie tagelang durch eine Steinwüste gewandert war, hörte Saku ein Flüstern in der Brise, das sie zu einem Wald voller dichter, berghoher Bäume führte. Vorsichtig folgte sie der Stimme und fragte sich, ob die Welt ihr bei ihrem Unterfangen half, die Gesellschaft der schwarzen Schlange zu vernichten, oder nur mit ihr spielte. Als könnte der dichter werdende Nebel ihre Gedanken lesen, sah sie plötzlich einen Schlangenkopf in der Ferne. Langsam kam sie der überwältigenden Erscheinung näher und blieb stehen, als sie erkannte, was es war.
Eine Opfergabe für die schwarze Schlange.
Leichen über Leichen, alle verdreht und verbogen, um einen Schlangenkopf darzustellen. Tropfende Ranken, die so dick wie Beine waren, hielten die Leichen zusammen. In einem Dutzend in das Fleisch geritzten Symbolen krümmten und wanden sich Würmer und Insekten. Unter der Opfergabe befand sich eine Tafel mit blutroten Buchstaben, die in einer Sprache verfasst waren, die sie nicht verstand. In ihrer Heimat hatte sie schon viele solcher Opfergaben gesehen und sie wusste, dass der Schöpfer nicht weit von seiner Schöpfung entfernt sein sollte. Oder aber er war immer noch Teil der Darstellung.
Sorgfältig inspizierte Saku jeden Zentimeter der Opfergabe. Keines der Gesichter schien zu leben. Keine Nasenlöcher blähten sich auf. Keine Augen blinzelten. Keine Finger zuckten. Doch als sie sich von der Opfergabe abwandte, hörte sie ein Lachen. Ein tiefes, lautes Lachen. Sofort sah sie genauer in die Dunkelheit und erkannte einen Mann in einer dunklen Robe, der ihr zuwinkte.
Sie nahm den Anhänger der schwarzen Schlange ins Visier und war entschlossen, seine Tage als Verderber zu beenden und ihn in Stücke zu hacken. Das Blut in ihren Adern wurde wärmer, als sie ihre Augen schloss und ihre Atmung zur Vorbereitung auf den Angriff verlangsamte.
Vor ihrem inneren Auge sah Saku, wie sie durch die Bäume schnellte, sprang und ihre Klinge direkt in seinen Hals bohrte. Dann öffnete sie ihre Augen und begann ihre langsame Annäherung an ihren Gegner. Sie beschleunigte zu einem tödlichen Sprint. Innerhalb von Sekunden war sie in der Luft, ihr glänzendes Katana gezückt. Eine Sekunde später landete sie und starrte den Anhänger an, dessen Kopf mit einem dumpfen Klang zu Boden fiel und bis zu einem Haufen Laub rollte. Ein Geysir von Arterienblut spritzte auf die alten Bäume. Doch ...
Der Körper taumelte nicht.
Er zuckte nicht.
Er brach nicht zusammen.
Stattdessen ging er in die Hocke und suchte den Boden nach seinem abgetrennten Kopf ab. Sie sah ein, dass dies alles nur ein Streich war, den ihr eine grausame Welt spielte, und verfluchte ihre Frustration, als der Kopf sie auslachte.
Die Erscheinung stand auf, hielt den lachenden Kopf in den Händen und jedes Kichern verstärkte die Demütigung noch. Mit einem schrecklichen Schrei hackte Saku die falsche Schlange in Tausend Stücke. Jedes Stück brannte wie orange Glut, als es herabsank und sich in den Nebel verflüchtigte, aus dem es geboren worden war.
Nach langer Stille zog Saku weiter durch den Wald zu einem anderen Reich, doch plötzlich stürzten gewaltige Äste rund um sie zu Boden und versuchten, sie wie einen Käfer zu zerdrücken. Sie hackte sich durch die fallenden Äste und eilte durch das Chaos, sprang, duckte sich und schlug Saltos, und blieb erst stehen, als der Wald hinter ihr lag.
Legende des roten Kranichs. 3.[]
Tagelange zog Saku blindlings durch die Reiche, bis sie den Rand einer Felsenklippe erreichte. Vor ihr stand ein Turm auf einer Steinsäule, die aus der Dunkelheit unter ihr wuchs. Direkt über dem Turm schwebte ein seltsames Luftschiff, das mit violettem Blut bedeckt war und von dem tote Wesen mit tintenfischähnlichen Köpfen und Tentakeln baumelten. Eine am Cockpit befestigte Holzleiter war auf das Dach des Turms herabgelassen worden. Jemand suchte etwas im Turm.
Vorsichtig wagte sich Saku zum Rand des Felsens und sah eine Holzbrücke, die die Klippe mit dem Turmeingang verband. Sie wollte das verlassene Gebäude näher inspizieren und betrat zaghaft die knarzende Brücke. Dabei stürzte sie dreimal beinahe hinunter. Doch jedes Mal fand sie das Gleichgewicht wieder, bis sie endlich die Basis des Turms erreicht hatte.
Als sie den Turm betrat, fand Saku schnell heraus, dass er voller Tagebücher war, die auf Koreanisch verfasst und voller Zeichnungen von seltsamen Insekten und Wesen waren, die im Reich zu finden waren. Sie bewegte sich von Raum zu Raum, während sie die Wendeltreppe zum Dach emporstieg. In jedem Zimmer fand sie stapelweise Tagebücher einer verzweifelten Person vor. Eine Person, die sie an sich selbst erinnerte. Eine Person, die sich nach Gesellschaft und Gelächter und Gesprächen unter einem mondbeschienenen Himmel sehnte.
Saku war schon eine gefühlte Ewigkeit allein und sie vermisste die Gespräche und das Lachen mit ihren Freunden und ihrer Familie mehr als alles andere. Ihre Reise hatte ihren Tribut gefordert, und für eine Sekunde, nur eine Sekunde, überlegte sie, wie es wäre, wenn dieser Turm ihre letzte Ruhestätte werden würde. Aber bevor die Verzweiflung alle ihre Sinne übermannen konnte, hörte sie eine Stimme, die sie um Hilfe rief. Die Stimme schien vom Dach zu kommen.
Schnell hastete Saku die Treppen nach oben und erschreckte einen jungen Mann, der für einen Moment mit verwundertem Blick erstarrte, als würde er sie erkennen. Dann schnappte sich der junge Mann eine Reihe von Schriftrollen und stürzte auf die Treppe zu, wo er nach jemandem namens Haley rief.
Saku bat ihn, stehen zu bleiben und verfolgte ihn bis aufs Dach. Sie wollte ihm nicht wehtun, nur erfahren, wer er war, wo er herkam und wie es dazugekommen war, dass er in diesem endlosen Albtraum mit einem Luftschiff reiste. Doch es war zu spät. Als sie durch die Tür stürmte, war die Leiter schon ins Luftschiffcockpit gezogen worden und das einsame Brummen des schweren Motors hallte durch den bodenlosen Abgrund.
Langsam aber sicher bewegte sich das Luftschiff durch den wabernden Nebel und ließ gelegentlich ein tiefes Nebelhorn ertönen, um die Wesen aus dem Abgrund zu verscheuchen.
Saku blickte dem Luftschiff noch lange Zeit nach, nachdem es verschwunden war. Dann taumelte sie zurück und brach neben einem menschlichen Skelett zusammen, das auf einem Stuhl festgemacht war und eine Angelrute in den Händen hielt. Unzählige Knochen von seltsamen Wesen, die es aus dem Abgrund gefischt hatte, lagen neben ihm.
Kurz lachte Saku laut auf, dann wurde sie still und Tränen liefen über ihre Wange. Sie schlurfte zurück, nahm sich die Flasche aus den Knochenhänden und trank das flüssige Feuer. Dann nahm sie sich die Rute und warf die Leine in den unruhigen Nebel unter ihr aus.
So saß Saku stundenlang da, fing nichts und sprach mit absolut niemandem über alles. Dann kletterte sie über den Rand der Außenmauer und wollte für einen Moment schon alles sein lassen und einfach loslassen, als sie plötzlich ...
... die Stimme hörte.
Mit einem schrecklichen Rumpeln fiel sie in einen Haufen Knochen und lachte und verfluchte sich selbst, dass sie den Albtraum zu nahe an sich herangelassen hatte. Sie rappelte sich auf, ging die Treppe hinunter und setzte ihre Reise durch die Mannigreiche fort.
Legende des roten Kranichs. 4.[]
Etwas verkatert näherte sich Saku einem Friedhof mit alten Statuen, die aus Felsen geschnitzt waren. Sie hatten die Ausmaße von Bergen und wurden von einem schimmernden grünen Licht beleuchtet, das von keiner eindeutigen Quelle zu kommen schien. Während sie sich an den gewaltigen, überwucherten, zerbröckelnden Armen, Beinen und Köpfen auf dem Boden vorbeibewegte, fiel ihr auf, dass die Gesichter der Statuen leer waren. Sie hatten keine Gesichtszüge. Keine Augen. Keine Wangen. Keine Lippen. Nichts. Nur leere Köpfe. Als sie an den gefallenen Statuen vorbeiging, hörte sie ein leises Bröckeln und Knacken in den Steinen. Sie wandte sich um und sah den Anhänger der schwarzen Schlange, wie er in einem dicken schwarzen Kimono mitten auf der geöffneten Handfläche einer abgetrennten Steinhand meditierte.
Saku kniff die Augen zusammen und beobachtete den Anhänger lange Zeit, während sie versuchte zu erkennen, ob er echt war oder aber nur ein weiterer Versuch dieser finsteren Welt, sie zu erniedrigen. Ein Instinkt sagte ihr, dass er einer der 21 war, denen sie in die Mannigreiche gefolgt war.
Lautlos näherte sie sich ihm wie eine Pantherin auf der Jagd. Sie zog sich am bröckelnden Handgelenk hoch und quetschte sich zwischen zwei dicken Fingern hindurch. Und gerade als sie ihr Katana mit einem Klirren zog und vorwärts schnellte, um seine Tage als Diener der Dunkelheit zu beenden, fing sie eine gewaltige Hand in der Luft und hob sie zu ihrem leeren Gesicht. Dann schien das leere Gesicht in rascher Folge tausend verschiedene Gesichter zu zeigen, als würde sie in die Maske der Ewigkeit blicken.
Der Anblick ließ Saku erzittern, und schnell wandte sie sich der offenen Handfläche am Boden zu. Der Anhänger war bereits verschwunden. Sie fluchte fürchterlich. Ihre Gesichtszüge verhärteten sich und sie wand sich aus dem Griff der Riesenstatue, bis sie wie eine wendige Katze zu Boden fiel.
Eine Sekunde später kam eine Faust nach unten geschnellt und ließ Erde und Trümmer hoch in die Luft fliegen. Schnell wich Saku Schlag um Schlag aus, während die Riesenstatue auf der Suche nach ihr den Friedhof verwüstete.
Die Riesenstatue hob ihre Gliedmaßen und ließ sie zu Boden schnellen. Doch Saku sprang von Deckung zu Deckung, während sie auf ihre Fluchtgelegenheit wartete. Und in diesem Friedhof der gefallenen Götzen spielte sie etwa 20 Runden lang Katz und Maus, bevor der Riese Saku endlich die Gelegenheit bot, die sie brauchte, um durch eine Säule wirbelnden Nebels zu entkommen.
Legende des roten Kranichs. 5.[]
Ein Schrei ertönte von jenseits des Waldes. Saku stürmte den Hügel hinauf, an toten Geschöpfen und gepfählten Leichen vorbei, und trat durch den Torbogen eines überwucherten Kolosseums. Sie lief bröckelnde Stufen zu den Tribünen hinauf und bewegte sich langsam zur uralten Arena. Als sie den Anhänger der schwarzen Schlange sah, den sie in den letzten Tagen oder Wochen – sie wusste es nicht mehr genau – verfolgt hatte, erstarrte sie. Er lag auf seinem Bauch, fraß Dreck, stöhnte und litt Qualen. Er hatte vier blutige Stummel, wo vorher Arme und Beine gewesen waren. Die Pfütze aus klebrigem, rotem Blut um ihn herum wurde immer größer.
Langsam ging Saku auf den sterbenden Mann zu und wartete darauf, dass er im Nebel verschwand wie all die anderen grausamen Erscheinungen, die diese Welt zu ihrer Erheiterung schon erschaffen hatte. Doch als er weder verschwand noch sie auslachte, wusste sie, dass er echt war und keine Erfindung des Albtraums.
Saku trat näher heran. Mit ihrem Fuß stieß und schubste sie den Torso, bis er auf dem Rücken lag und sie mit blutunterlaufenen Augen und bebenden Lippen ansah. Schäumender Speichel und Blut formten Blasen, als er verzweifelt um ein schnelles Ende bettelte.
Stattdessen trat Saku zurück, setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und sah ihm bei dem langsamen und elenden Tod zu, den er verdient hatte. Während er um ihr schnelles Schwert bettelte, tauchten Krähen aus der Dunkelheit auf und umschwärmten den sich windenden Wurm von einem Mann. Dann bedienten sie sich an diesem menschlichen Wurm, bis nur noch Knochen übrig waren.
Als die Krähen in der Dunkelheit verschwanden, stand Saku auf und wischte sich den Staub von ihrem Kimono. Sie atmete tief ein, um sich zu beruhigen, zog ihr Katana und schlug der Leiche den Kopf ab. Sie sah zu, wie der Kopf davonrollte, als sich der Himmel verfinsterte und Knochen und Blut herabregneten.
Saku sah verwirrt, aber nicht unbedingt überrascht zum Himmel. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Sie spürte die Gefahr und eilte in einen nahen Tunnel, wo sie Fleischfetzen von ihrem Körper wischte und einen spitzen Knochen entfernte, der ihre Schulter durchbohrt hatte.
Geduldig wartete Saku am Rand des Tunnels, während Fleisch und Blut in die Arena prasselten. Durch das Geräusch der platschenden Organe und Eingeweide hörte sie ein Klirren hinter sich. Langsam drehte sie sich um und sah ...
Dutzendweise untote Gladiatoren.
Mit einem tiefen Seufzen zückte sie ihr Katana und wich langsam in die blutige Arena zurück. Die Gladiatoren kamen langsam näher und griffen sie mit ihren Äxten, Speeren und schweren Schwertern an.
Saku kämpfte gegen die Gladiatoren an, bis der letzte Kopf abgetrennt und die höllischen Schreie und Rufe verstummt waren. Erschöpft taumelte sie zurück und fiel in einen blutroten Eintopf des Todes. Von dort aus blickte sie in den Nachthimmel und hoffte wider jede Hoffnung, aus diesem Albtraum erwachen zu können, der ihr Leben geworden war.
Legende des roten Kranichs. 6.[]
Nachdem sie die Anhänger der schwarzen Schlange wochenlang durch seltsame und elende Reiche verfolgt hatte, fand sich Saku in einem Sumpf aus dichtem Gras und tiefem Schlamm, der an verfaultes Fleisch erinnerte. Mehrmals blieb sie stecken und fand dann doch die Kraft, sich zu befreien und weiterzugehen, trotz der ständigen dunklen und verzweifelten Gedanken, die sie bei jedem Schritt plagten.
Schließlich hatte sie den Sumpf durchquert und brach direkt an seinem Rand zusammen. Mit zitternden Armen und Beinen erhob sie sich und hielt dann inne, als sie die zerklüfteten Berge in der Ferne sah.
Vor Verzweiflung wie gelähmt erkannte sie, dass sie nicht wusste, was sie tun würde, wenn sie ihr Versprechen erfüllt und den letzten Anhänger getötet haben würde. Nichts, was sie tat, könnte ihren Clan je wieder zurückbringen, und einen Moment lang wollte sie einfach umfallen und in der Vergessenheit versinken.
Danach wäre alles vorbei. Keine Wut mehr. Kein Hass mehr. Keine Rache mehr. Nur Einsamkeit und all die Erinnerungen an das, was sie verloren hatte. Langsam hob Saku ihre blutigen Hände vor ihr Gesicht und starrte sie einen langen Augenblick lang an. Dann senkte sie die Hände und zuckte vor Schmerzen. Ein kleines Eiterrinnsal tropfte von einer tiefen Wunde an ihrem Arm.
Saku musste sich um die Verletzung kümmern, bevor sie anfing zu schwären.
Oder auch nicht.
Sie war sich selbst nicht mehr sicher, was sie wollte.
Die Verzweiflung war größer als je zuvor. Sie trübte ihr Urteilsvermögen, ließ Bedeutung und Erinnerung verschmelzen, sodass sie sich nicht mehr wirklich an ihre Beweggründe, ihr Ziel, ihre Vergangenheit erinnern konnte. Und jetzt fühlte sie sich nur noch ...
Verlassen.
Von allen, die sie je gekannt und geliebt hatte.
Sie wusste auch, dass dies ein absurder Gedanke war, aber sie konnte ihn nicht verdrängen.
Saku stand eine gefühlte Ewigkeit lang da und starrte einfach nur auf den Berg vor ihr. Sie fühlte sich allein, schloss die Augen und versuchte, sich an Teile ihres Lebens zu erinnern. Sie musste sich bemühen, um sich Gesichter, Stimmen und Lachen in Erinnerung zu rufen. Und sie erinnerte sich ...
An ihr Versprechen.
Ihr Versprechen, ihrem Clan Ehre zu bringen, indem sie beendete, was er begonnen hatte.
Indem sie die Gesellschaft der schwarzen Schlange ein für alle Mal vernichtete.
Aber zuerst musste Saku ihre Zweifel und Verzweiflung, ihre lähmenden Gedanken und Gefühle loswerden, die von diesem lebenden Albtraum verstärkt wurden. Sie öffnete ihre Augen und zerdrückte jeden dunklen Gedanken wie einen imaginären Käfer. Dann zog sie aus einem kleinen Beutel ein Stück Stoff hervor und versorgte ihre Wunde.
Während sie das tat, hörte sie eine schwache Stimme nach Hilfe rufen. Zuerst nur leise und dann immer lauter. Sie versuchte nicht, sie zu verstehen. Und obwohl sie wusste, dass dies eine weitere Falle des Albtraums sein könnte, folgte sie der Stimme zu den Bergen.
Legende des roten Kranichs. 7.[]
Im silbernen Schein des Mondes folgte Saku einer Spur von verdrehten, zermalmten und halb aufgefressenen Leichen und suchte nach der Person, die um Hilfe gerufen hatte. Sie krabbelte über Haufen von bewaffneten Soldaten aus allen Epochen, die einen hoffnungslosen Kampf gegen eine gewaltige Kreatur mit Dutzenden Tentakeln ausgefochten hatten, die so groß wie Gebäude waren. Die leblosen Tentakel hielten noch immer zerfleischte Soldaten und Zivilisten in ihrem Todesgriff. Ihre Münder waren weit geöffnet und pures Grauen stand in ihre Gesichter geschrieben. Es schien, als hätte das Wesen Hunderte Überlebende aus anderen Welten angegriffen, die vielleicht hier eine Art Heimat in diesem Albtraum aufbauen wollten. Aber es war egal, was die Leute taten, um so etwas wie ein normales Leben zu führen; irgendwie fand das Grauen immer einen Weg.
Saku hatte das auf ihren Reisen durch die Mannigreiche unzählige Male gesehen. Die Bruchstücke von Gemeinschaften, die sich irgendwie aus der Asche von zerstörten und vergessenen Welten erhoben hatten, nur um dann von einem unbegreiflichen Wesen aus dem Abgrund vernichtet zu werden. Es war zwecklos.
Saku sah sich den Kriegsschauplatz an und seufzte ob des Gemetzels rund um sie. Es hatte Hunderte Soldaten gebraucht, um das Geschöpf zu besiegen, und sie war sich nicht einmal sicher, ob es nun tot war. Als sie die Leichen begutachtete, fiel ihr auf, dass die Tentakel ab und zu zuckten. Doch sie tat die unregelmäßigen Bewegungen als Todeszucken ab und folgte einem verwesenden Tentakel durch eine Wand aus Nebel zu einem schwachen Wiehern.
Während sie dem Tentakel folgte, wurde das Wiehern lauter und ließ irgendwie Wörter in ihrem Kopf entstehen. Sie trat und schob Leichen zur Seite, um die Quelle der Stimme aufzuspüren, bis sie in einer großen Blutpfütze endlich ein erschöpftes Pferd fand, das unter einem gewaltigen Tentakel gefangen war.
Vorsichtig hockte sie sich neben das leidende Pferd und sah es eine lange Zeit an, während sein verzweifeltes Wiehern Worte in ihrem Kopf formte. Sie versuchte nicht, sie zu verstehen. Sie glaubte auch nicht, dass man sie verstehen könnte. Diese Welt hatte sie gelehrt, dass alles, was sie für unmöglich hielt, möglich war, und dass alles, was man sich vorstellen konnte, auch irgendwo in diesem Albtraum existierte.
Saku redete dem Pferd gut zu und versprach, dass alles gut werden würde und dass sie es aus seinem Dilemma befreien würde, während sie sich abmühte, das Tentakel hochzustemmen. Ihre Worte schienen das Tier zu beruhigen. Doch gerade, als es sich wiehernd bei ihr bedankte, öffnete sich das riesige Auge des Wesens.
Das Auge loderte, wie kein Auge lodern sollte.
Ohne zu zögern wirbelte Saku herum und versenkte ihr Katana in der Pupille. Blut spritzte und füllte sofort das Weiße im Auge. Das Wesen kreischte markerschütternd, als es seinen letzten Atemzug tat. Saku zog ihr Katana wieder heraus, ging zum Pferd zurück, zerhackte das Riesententakel und befreite das Tier. Dann schwang sie sich auf das dankbare Pferd und ritt in den Abgrund.
Der rote Kranich. Blutiger Zorn.[]
"Der blutige Kopf, den Saku ins Feuer warf, fing Feuer und schickte glühende Asche in den Nachthimmel. Die tanzenden Flammen beleuchteten ihren finsteren Gesichtsausdruck, als sie eine Schriftrolle aus Menschenhaut entrollte und die uralten Symbole begutachtete. Sie konnte nicht entziffern, wofür die Symbole standen. Aber als das Feuerlicht in ihren Augen glitzerte, bemerkte sie, dass einige der Symbole zu zittern und sich zu krümmen begannen und zu anderen Symbolen wurden. Es war, als würden die Symbole zum Leben erwachen. Aber Saku wusste, dass dies unmöglich war, und war sich sicher, dass ihr ihr Verstand Streiche spielte.
Mit einem Ruck warf sie die Schriftrolle ins größer werdende Feuer. Dann erhob sie sich und stand inmitten der niedergemetzelten Leichen ihrer Feinde. Sie fütterte die hungrigen, lodernden Flammen mit weiteren Knochen und Fleischstücken. So stand sie da, fütterte das Feuer langsam und hoffte wider jede Hoffnung, dass sie ihr geliebtes Land eines Tages von der Gesellschaft der schwarzen Schlange befreien können würde.
Saku sah zu, wie der Scheiterhaufen niederbrannte, bis nur noch ein Haufen Asche übrig war und ...
Die makellose Schriftrolle.
Sie kauerte sich neben dem glimmenden Haufen hin und zog die Schriftrolle aus der Asche, als sie ein vernehmliches Klicken hinter sich hörte.
„Gib uns zurück, was uns gehört, dann lassen wir dich am Leben!“
Saku wandte sich um und sah mehrere Schläger in Schlangenrüstung, die mit Pistolen auf sie zielten. Ihre Antwort war das Blitzen einer Klinge und blutiger Zorn.
Jahr sieben. Tag 373. Nacht.[]
Ich habe alle Geschichten rund um den Roten Kranich gesammelt und gelesen, vor allem die, die ihre Reise nacherzählen, nachdem sie dem letzten Anhänger der Gesellschaft der schwarzen Schlange in eine andere Dimension gefolgt war. Eine wiederkehrende Idee in diesen Geschichten ist, dass diese Dimension aus Gedanken und Erinnerungen geformt ist. Anders ausgedrückt: Wir können unsere dunkelsten Fantasien zum Leben erwecken, wenn wir uns nur darauf fokussieren. Für mich bedeutet das, dass die erste Schlacht, die man ausfechten muss, im eigenen Verstand stattfindet.
Jahr sieben. Tag 398. Nachmittag.[]
Mehrere Überlebende stießen auf die Überreste eines Luftschiffs. Keine Leichen oder Lebenszeichen. Erinnerte mich an die Geschichte, die Sam uns letztens erzählt hat. Darin reisten Überlebende mit einem provisorischen Luftschiff durch eine albtraumhafte Welt. Ich sollte die Bruchstücke durchsuchen und Gegenstände sammeln, um zu sehen, ob es irgendwelche Verbindungen zu dieser Geschichte gibt. Vielleicht sollten wir gemeinsam daran arbeiten, es wieder zum Laufen zu bringen. Erschien mir keine so schlechte Idee.
Kurzfilme[]
Vittorio Toscano: Reise der Verlorenen
Tarhos Kovács: Nichts außer Dunkelheit
Belohnungen[]
Durch das Abschließen der entsprechenden Aufgaben der vier Stufen im Foliant erhält der Spieler folgende Glücksbringer:
Bild
Name
Beschreibung
Stufe
Vergessener Schild
Ein alter Schild auf einem vergessenen Schlachtfeld.
STUFE I
Erhobener Schild
Ein uralter Mechanismus im Schild begann, Form anzunehmen.
STUFE II
Drachenschild
Ein mächtiger Drache erschien auf der Oberfläche und packte den Rand des Schilds.
STUFE III
Unsterblicher Schild
Der Drache breitete seine majestätischen Flügel aus und wurde eins mit dem Schild.