Die alte Kneipe wird überflutet von betrunkenen Schreien und Gelächter, während die Stammkunden Bier trinken, Dart spielen und auf dem Flachbildfernseher über der Bar Fußball schauen. David sitzt allein auf einem harten Holzhocker an der Bar. Er sieht bereits Jasmine vor seinem inneren Auge. Blondes Haar, blaue Augen, kurzer Rock, spaziert mit einem Hauch von wilder Vanille und ein paar lustigen Bemerkungen aus ihrer Wohnung – wie in all diesen Schwarz-Weiß-Filmen, die sich seine Mutter allein in der Küche angesehen hat. Sie ist genau so wie in den Filmen. Alles, was seinem Vater an einer Frau gefällt, und noch mehr. Sie ist auf jeden Fall das perfekte Date für die Pensionierungsfeier des Alten in ein paar Tagen. Sie wird bestimmt alle Blicke auf sich ziehen und ihn stolz machen.
David leert sein Bierglas, schaudert angesichts des bitteren Geschmacks und klopft mit dem Glas auf die Metalltheke. Immer noch spürt er das Gefühl der Enge um seinen Hals und seine Schultern. Er findet, er braucht noch etwas sozialen Schmierstoff, damit dieses erste Date problemlos läuft. Auf keinen Fall will er es vor der Party versemmeln.
David wirft einen Blick über die Bar und gibt seinem alten Freund Rik ein Zeichen. Er schiebt ihm sein leeres Glas zu, bedeutet ihm mit einem Nicken, es aufzufüllen, und spürt plötzlich einen scharfen Schmerz in seiner linken Seite.
Rik kehrt mit einem goldenen Pint zurück, dessen Schaum an den Seiten heruntertropft, als David es ihm aus der Hand reißt, einen Schluck nimmt und wieder das Gesicht verzieht. Es schmeckt bitter, und er weiß, so bitter sollte es eigentlich nicht sein.
Er winkt Rik zu sich heran und beugt sich vor. Dieser Scheiß bringt mich um. Und er schmeckt, als hätte jemand in eine Badewanne voller Eselpisse gefurzt. Hast du das aus einem Automotor abgezapft oder ist es das wirklich das richtige Zeug?
Es ist das richtige Zeug, Dave. So schmeckt das eben.
Schmeckt nach Gift.
Tja … Warum hörst du nicht auf, dich selbst zu bestrafen?
Davids linke Seite zieht wieder. Er überlegt angestrengt, ob der Blinddarm links oder rechts liegt. Er ist sich nicht sicher. Es ist ihm egal. Alles in seinem Bauch und in seiner Brust tut weh, und er findet, mit einem Blinddarmdurchbruch wäre er sowieso besser dran.
Manches Gift ist gar nicht so schlecht.
Rik schüttelt missbilligend den Kopf. Lass es langsam angehen, außer du willst vor – wie hieß sie noch mal? – wie ein Vollarsch dastehen.
Jasmine.
Ein betrunkener Fan kommt auf David zu. Sieh mal einer an! So wahr ich hier stehe, David fucking King! Warum setzt du dich nicht zu uns?
David beachtet ihn nicht und blickt Richtung Fußballspiel. Ich will jetzt einfach nur allein sein. Ein andermal.
Komm schon! Hast du nicht mal ein paar Sekunden Zeit für einen Fan?
David sieht Rik fest in die Augen, ohne den betrunkenen Raufbold neben ihm eines Blickes zu würdigen. Danke für die Einladung, aber ich habe heute keinen guten Tag. Deshalb bin ich allein hier … also bitte …
Der betrunkene Fan boxt ihm gegen die Schulter. Ich muss einfach fragen. Was hat der Schiedsrichter zu dir gesagt, dass du so sauer warst?
Hast du Scheiße in den Ohren oder was? Verzieh dich!
Der Fan stupst David noch einmal an. David schnappt sich den Finger, biegt ihn gegen das Gelenk und nimmt noch einen Schluck Eselpisse, während der Fan vor Schmerz auf die Knie sinkt und Zeter und Mordio schreit.
Rik gibt einem Riesen von einem Mann schnell ein Zeichen, woraufhin dieser den betrunkenen Fan und seine Kollegen hinausbefördert, bevor es Mord und Totschlag gibt. Dann schüttelt er den Kopf. Eines Tages wirst du dich mit dem Falschen anlegen. Ich habe ihm gesagt, dass ich meine Ruhe haben will.
Es hätte wahrscheinlich einen besseren Weg gegeben, ihm das klarzumachen … außer es ging hier um was anderes.
Ich habe seinen Finger gebrochen. Nichts weiter.
Rik runzelt die Stirn. Apropos, du hast es mir nie erzählt?
Was denn?
Was mit dem Schiedsrichter los war.
David zuckt die Schultern und schüttelt den Kopf. Er hat zur falschen Zeit das Falsche gesagt und ich bin ausgerastet. Ist auch egal. Ja, ich sehe schon, wie egal es ist.
Den Sarkasmus beantwortet David mit einem Seufzen, und er spürt Riks Blicke, als er einen Schluck nimmt. Wie schon gesagt … ist egal.
Ah … Geheimnisse. Was verbirgt sich hinter der Fassade, Mr King. Ja, genau, dahinter. Ich kenne dich jetzt seit 16 Jahren und du bist mir immer noch ein Rätsel. Irgendwann wirst du es mir sagen.
Rik greift sich sein leeres Glas und geht.
ERINNERUNG 385[ | ]
David spürt, wie seine Lippen und seine Zunge mit jedem Pint schwerer werden. Er gibt weiter mit seinem neuen weißen Hemd, seinem neuen Eau de Cologne und seiner neuen Freundin Jasmine an. Er erzählt Rik, dass er sie an einem Springbrunnen getroffen hat, an dem ein berühmter Fotograf sie fotografiert hat. Alle sind stehen geblieben und haben ihre Schönheit bewundert. Er sucht in Riks Gesicht nach Bestätigung, aber er hat das Gefühl, dass er nur aus Nettigkeit nickt.
Du hättest sie sehen sollen. Jeder Mann hat sie angestarrt. Sie trug diesen Bikini und die Sommersonne strahlte sie an. Jeder Mann hat sie angestarrt … und sie hat mich angestarrt …
Das hast du jetzt schon mehrmals gesagt.
Ach ja?
Ja. Klingt langsam eher nach Überzeugen als nach Prahlen.
David runzelt die Stirn und blickt einen langen Augenblick lang ins Leere. Dann steckt er die Hände in die Taschen und fühlt das harte Klebeband, das eine alte Notiz zusammenhält. Ich will dich von nichts überzeugen.
Ich habe ja auch nicht gesagt, dass du mich überzeugen willst.
Wen dann?
Das ist die Frage, nicht wahr?
Ich verstehe das nicht. Was ist die Frage? Hör auf, so zu reden.
Dave … wie wär’s, wenn du aufhörst, so zu reden. Du kommst in meine Kneipe und erzählst von Supermodels und Heldentaten, die du einem Schmuddelmagazin verkaufen könntest, und du machst das auch echt gut. Und wenn ich dich nicht kennen würde, würde ich es dir abkaufen.
David verzieht das Gesicht und wendet sich ab.
Du sitzt hier und erzählst, wie glücklich du bist, während du finster aus der Wäsche guckst, Finger brichst und jeden verprügeln willst, der dich schief ansieht. Und wahrscheinlich bist du selbst der Einzige, der dir wirklich zu schaffen macht, verdammt.
Man boxt Leute nicht gegen den Arm. Das tut man einfach nicht.
Du kannst gern glauben, dass du glücklich bist, wenn du das willst. Aber so wie ich das sehe, bist du der unglücklichste Kerl in Manchester. Und weil ich dich mag, werde ich nicht so tun, als könntest du mir was vormachen.
Na klar, schon wieder du mit deinen Psychoanalysen. Wahrscheinlich willst du mich mit irgendeinem Spinner aus der Geschichte vergleichen, an den sich niemand erinnert und von dem du in einem deiner dummen Bücher gelesen hast.
Rik schüttelt den Kopf. Und du spielst mal wieder alles herunter, wenn ein Freund einfach nur wissen will, ob es dir gut geht.
Und du wirst mal wieder melodramatisch, wenn ein Freund einfach nur was trinken will.
Dave … Ich bin sicher, sie ist ein nettes Mädchen, aber ich sag dir eins. Scheiß auf sie. Geh nicht. Versetze sie und mach, was du wirklich willst.
Hör auf mit dem Klugscheißen.
Rik beugt sich zu ihm herüber. Ich meine es ernst, Dave. So ernst wie die Notiz in deiner Tasche. Du weißt schon … die, die du immer mal wieder liest, wenn du denkst, dass es niemand sieht.
David weicht zurück. Kümmer dich um deinen eigenen Scheiß!
Habe ich da einen Nerv getroffen?
David leert das Glas, wischt sich den Mund ab und taumelt vom Hocker. Mir geht’s gut!
Auf seinem Weg nach draußen stößt er betrunkene Gäste und die schwere hölzerne Eingangstür beiseite. Er kommt aus dem Gleichgewicht und torkelt in die kühle, gleichgültige Sommernacht.
ERINNERUNG 386[ | ]
David spürt, dass ihm jemand folgt, als an der Gasse neben der Kneipe vorbeischlurft. Als er sich umdreht, sieht er den verärgerten Fan und seine Idiotenclique. Sie schreien, reißen Witze und rufen ihm Beleidigungen zu. Für ihn ist es nur ein einziges Stimmengewirr. Aber er versteht den Tonfall und die Bedeutung.
Der Fan kommt mit einem gekrümmten Finger auf ihn zu. Du solltest dankbar sein, dass sich überhaupt jemand an dich erinnert, du erbärmlicher Penner. Man erinnert sich nur an dich, weil du deine Karriere mit einem Mal im Klo runtergespült hast.
David spürt, wie ihm das Blut brodelnd in den Kopf schießt, und erst, als es schon zu spät ist, wird ihm klar, dass er hemmungslos die Fäuste fliegen lässt. Er hört auf, um sich das Blut von der Faust zu wischen, als ein Idiot ihn in die dunkle Gasse drängt. Ein anderer Idiot läuft schreiend auf ihn zu und schubst ihn gegen eine Ziegelmauer.
David stößt sich von der Mauer ab und drückt beide in einen Müllcontainer. Er wirbelt herum, um einem anderen Idioten eine zu verpassen, woraufhin der mit einem dumpfen Geräusch zu Boden geht. Mehrere andere greifen ihn an. Er weicht nicht zurück, teilt Schmerz aus und steckt ihre Angriffe ein, bis sie zusammenbrechen.
David baut sich über ihnen auf, trunken von seiner eigenen Stärke, als ihm plötzlich jemand in den Rücken tritt. Er stürzt nach vorn und spürt dann, wie sich ein Arm um seinen Hals legt und ihm die Luft abdrückt wie eine Königsboa. Mit verschwommenem Blick sieht er, wie ihm die Idioten abwechselnd in den Magen und ins Gesicht schlagen und treten.
Die Schlange lässt David los und er sackt zusammen, mit zwei tennisballgroß zugeschwollenen Augen, einer blutenden Nase und einem Zahn, der ihm in den Hals herunterrutscht. Er krabbelt aus der Gasse und auf den Bürgersteig, wo die Leute an ihm vorbeigehen, ohne ihn wirklich zu beachten.
Dann dreht er sich auf den Rücken und blickt zu den Sternen, die hinter den kaputten Straßenlaternen funkeln. Er ist dankbar, dass er sich nicht übergeben musste. Aber er ist auch nie der Typ gewesen, der sich übergibt. Nicht, wenn er trinkt. Nicht vor einem Spiel. Nicht einmal vor einem Familientreffen.
ERINNERUNG 387[ | ]
David sieht die Beine der Fußgänger kaum, die an ihm vorbei gehen. Er hört sie flüstern, plaudern, lachen und dann verstummen, wenn sie sich ihm nähern. Ein-, zweimal hat er ein Flüstern gehört, ob man ihm helfen sollte, aber es ist schnell wieder verstummt und schließlich hat ihm niemand geholfen. Er will sowieso keine Hilfe. Er starrt hinauf zu den trüben, verblassenden Sternen und fragt sich, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er einfach so wie seine Eltern geworden wäre. Dann dämmert es ihm. Er weiß nicht mal, was das heißen soll. Er weiß nicht, wer sie sind. Er kennt nur ein paar Seiten von ihnen, den Status, die Fassade, den Scheißdreck. Aber nicht ihr wahres Selbst, nicht die Geheimnisse, die Affären und die Süchte.
Während David in die Dunkelheit über ihm blickt, hört er, wie eine Frau zu ihrem Ehemann sagt, dass sie dem armen, zusammengeschlagenen Mann, der blutend auf dem Bürgersteig liegt, wirklich helfen sollten. Er sieht die verschwommenen Schatten, die sich über ihn beugen, als sie ihn besorgt ansehen. Er hört sie noch etwas mehr flüstern und dann widmen sie sich wieder ihrem hektischen Leben.
Durch den Nebel in seinem Kopf kann er sich an die Geschichte erinnern, dass jemand in einem Stadion an einem Herzinfarkt gestorben ist, weil kein Mensch sich um den zusammengesackten Mann am Boden gekümmert hat, der sich so krampfhaft an sein Handy klammerte. Ein Anruf hätte sein Leben gerettet.
Rik hat ihm diese Geschichte vor einiger Zeit erzählt. Er kann sich nicht mehr erinnern, wann und warum. Rik hat viele nutzlose Geschichten, die er von Freunden und Kunden hört und die er dann im Smalltalk einbaut.
David schließt für einen Moment die Augen. Er atmet tief ein und riecht die Blumennoten seines Eau de Cologne. Wie weiche Blüten, die in der Nachtbrise schweben. Er ist froh, dass seine Nase noch funktioniert und dass er keinen Herzinfarkt hat, auch wenn es sich so anfühlt, als hätte ihm jemand sein Herz aus der Brust getreten.
ERINNERUNG 388[ | ]
David spürt, dass sich jemand neben ihn legt.
Jemand hat mir gesagt, dass du hier draußen die frische Brise genießt.
Er erkennt Riks Stimme, antwortet aber nicht.
Eine schöne Nacht. So eine Nacht wie diese habe ich noch nie gesehen.
David seufzt. Geh … bitte …
Rik ignoriert ihn. Nicht so angenehm für den Rücken, aber der Blick auf die Sterne macht es wieder wett.
Bitte …
Sieh dir nur diese Wolken an. Ein Sturm zieht auf. Wir sollten es genießen, solange wir können.
David dreht sich zu Rik und sieht ihn durch zugeschwollene Schlitze an. Er sagt nichts.
Weißt du, Kokosnüsse bringen mehr Menschen um als Haie. Ich habe das nachgelesen, weil mir jemand eine Geschichte über ein Paar erzählt hat, das viele Jahre zusammen war. Die Frau wollte immer, dass der Ehemann im Urlaub ins Wasser geht, aber er hatte Angst. Er wollte nicht von einem Hai gefressen werden …
… Sie reisen seit 20 Jahren an denselben Ort und er geht nie ins Wasser. Zu ihrem 60. Geburtstag beschließt er dann reinzugehen. Sie ist glücklich und er ist nervös. Aber als er zum Strand geht … fällt ihm eine Kokosnuss auf den Kopf. Er stirbt sofort.
Man sollte meinen, dass sich das in ihr Gedächtnis eingeprägt hat. Sie ist jahrelang zu mir gekommen und hat mir kein einziges Mal von der Kokosnuss erzählt. Jemand anderes hat es mir erzählt. Sie hat mir von all den anderen Dingen erzählt … aber nicht davon … Und ich war neidisch auf sie, weil ich denke, dass Menschen, die wissen, wen sie lieben, die größten Glückspilze sind. Mächtiger als die Mächtigsten in einer Wüste voller gebrochener Herzen.
David räuspert sich. Soll mich diese Geschichte aufheitern?
Ich versuche nicht, dich aufzuheitern. Ich sage dir, dass ich neidisch auf dich bin, Dave. Und ich spreche nicht von Jasmine oder den anderen.
Du stellst schon wieder Vermutungen über Dinge an, die du nicht wirklich verstehst.
Ich verstehe dich. Ich verstehe die Liebe. Und ich weiß genug, um zu verstehen, dass man sie nicht einfach aufgibt, selbst wenn am Ende eine kosmische Kokosnuss auf uns alle wartet.
David schließt die Augen.
Rik lacht leise. Ihre Geschichte hätte einen richtig guten Film abgegeben. Bis auf das Ende mit der Kokosnuss. Das müsste man wahrscheinlich ändern.
David seufzt schwer und mit einem wachsenden Kloß im Hals flüstert er, dass Rik ihn allein lassen soll. Er soll ihn einfach allein lassen.
ERINNERUNG 389[ | ]
David öffnet seine geschwollenen Augen und sieht, dass Rik ihn anstarrt.
Ich hatte diesen Stammgast, der vor ein paar Jahren einfach nicht mehr in die Kneipe kam. Ich habe erfahren, dass sie im Gefängnis saß. Stell dir das vor, Gefängnis. Wegen Mordes. Eine Herzensangelegenheit. Sie fand heraus, dass ihr Ehemann in eine andere verliebt war. Also hat sie ihn in ihr Ferienhaus gelockt, ihn mit Schlaftabletten betäubt, die Türen und Fenster zugenagelt und das Haus in Brand gesteckt, während er schlief.
Er wachte auf und versuchte, die Bretter zu durchbrechen. Aber sie wartete mit einem Hammer auf ihn. Als er versuchte, durch das kaputte und brennende Holz zu klettern …
Zack! Zack! Zack!
Sie zerschmetterte mit dem Hammer seine Arme, Hände und Schultern, bis er sich kaum noch bewegen konnte. Es blieb nur noch ein Häufchen Elend von einem Mann, der versuchte, sich zwischen zersplitterten Brettern hindurchzuzwängen, während dicker, schwarzer Rauch ihn wie Sirup umfing. Sie steht da und sieht zu, wie er schwitzt, brennt, atmet, schreit, fleht … und rührt sich nicht, bis die Polizei kommt.
David wendet sich von Rik ab und sagt gar nichts.
Ihr Ehemann hatte sie schon mal betrogen, und das war ihr egal. Aber dieses Mal, na ja, dieses Mal war er verliebt. Das würde auch einen guten Film abgeben. Nur würde sie ihn am Ende nicht töten und er würde wahrscheinlich einsehen, dass er nur eine Midlife-Crisis durchmacht. Ich habe noch nie jemanden getroffen, für den ich töten oder sterben würde. Ich frage mich manchmal, wie sich das anfühlt … ob ich so etwas tun könnte …
David fühlt Riks Blick auf ihm.
Ich glaube, meine längste Beziehung hielt ein Jahr. Ich habe zu hören bekommen, dass mein Ego zu groß ist und dass ich Probleme mit Kompromissen habe. Und das stimmt. Aber es ist auch wahr, dass ich noch nie jemanden getroffen habe, für den ich Kompromisse eingehen wollte.
David lauscht den Geräuschen der Fußgänger, die an ihnen vorbeigehen.
Weißt du, ein Gast hat mir mal erzählt, dass Wölfe entweder in Rudeln oder allein oder in Paaren leben. Wusstest du, dass Paare so eine starke Bindung aufbauen … dass wenn einer stirbt … der andere nur wenige Sekunden später stirbt … Als könnten Wölfe einfach den Schalter des Lebens umlegen, wenn ihnen danach ist. Eine Seele folgt der anderen in die nächste Welt, falls du an so was glaubst.
David dreht sich zu Rik. Bitte … Ich möchte nicht reden.
Noch eine Geschichte, dann lass ich dich allein. Es ist eine wahre Geschichte, die sich vor 100 Jahren ereignet hat. In einer Zeit, als so eine Geschichte nicht mal erzählt worden wäre. Ich weiß nicht mehr, wie sie sich kennengelernt haben, aber als Richard und Will sich zum ersten Mal sahen, verliebten sie sich ineinander. Und sie verheimlichten ihre Liebe, denn damals … konnte man dafür gehängt werden … na ja …, wenn man nicht so liebte wie die anderen.
David fühlt eine plötzliche Wärme in sich aufsteigen.
Sie führten ein Leben in Heimlichkeit, aber schließlich wurden sie erwischt. Und während so viele vor dem Henker logen und zitterten, weigerten sie sich, das zu leugnen, was sie hatten … was sie ineinander gefunden hatten. Noch mit der Schlinge um den Hals bekamen sie eine letzte Chance, Buße zu tun … aber sie nahmen sie nicht an. Statt Furcht … war da nur Liebe … und Will nimmt Richards Hand und küsst sie, als der Henker den Wagen unter ihren Füßen wegzieht. Davids geschwollenen Augen laufen vor Tränen über, als er die zwei Liebenden am Galgen baumeln sieht. Er will etwas sagen, aber spürt eine unsichtbare Schlinge um seinen Hals, die ihn würgt und ihn davon abhält, die Last von seinem Herzen zu nehmen.
Das würde einen großartigen Film abgeben.
Davids Lippen beben. Er möchte so viel sagen, aber die Wörter wollen einfach nicht herauskommen. Er hat das Gefühl, als würde er in einer Welt voll Morast versinken. Dann verhärtet sich sein Gesicht und sein ganzer Körper bebt, als er versucht, den Schmerz zu unterdrücken. Er verliert den Kampf und ein Keuchen und Wortfetzen brechen aus ihm hervor, während er verzweifelt zu atmen versucht.
Und Rik greift nach seinem Arm, stützt ihn, hält ihn, rettet ihn davor, immer tiefer in dem Ödland zu versinken, wo schon so viele verloren und vergessen wurden.
ERINNERUNG 390[ | ]
Was war so besonders an ihm?
Die Frage verblüfft David. Er nimmt sich einen Augenblick, um sich zu sammeln. Ich könnte keine einzelne Sache benennen … Es waren viele kleine Dinge, die mir einfach ein gutes Gefühl gaben, wenn ich bei ihm war. Alle anderen geben mir das Gefühl, dass ich jemand sein müsste, der ich nicht bin. Aber er nicht.
Ich habe die Pressemeldung nie geglaubt.
Meine Eltern hassen sich. Sie hätten sich vor Jahren scheiden lassen sollen … aber sie wahren den Schein und führen ein Doppelleben … also nehme ich an, dass das normal ist.
Es funktioniert für manche Menschen.
Ich vermisse ihn. Ich vermisse uns. Ich erinnere mich an unser Kennenlernen, als wäre es gestern gewesen. Wenn ich bei ihm war, wusste ich es. Und ich wusste sofort, dass er etwas Besonderes war und ein wichtiger Mensch in meinem Leben sein würde. Wir haben uns im Musikcamp kennengelernt. Ich war sieben und wollte nicht hin. Ironischerweise hat mich meine Mutter dazu gezwungen, also ist sie wohl der Grund, warum wir uns getroffen haben. Ich konnte kein Instrument spielen …
… aber Tristan … Tristan war etwas Besonderes … Ich hörte ihm gerne zu, wenn er Klavier spielte. Zuerst war meine Mutter glücklich … Ich hatte einen Musikfreund … vielleicht würde ich doch noch zum Violinisten werden …
… Ich glaube, sie verstand es schneller als ich, denn bald verbot sie ihm zu kommen. Sie erfand irgendeine Ausrede, von wegen seine Familie hatte einen schlechten Ruf.
Dann begann das Gerede. Über meine Verantwortung als ein King. Sie erzählt mir vom Ruf unserer Familie und der Stärke unseres Namens und dass ich in große Fußstapfen trete … Opfer für die Familie und der ganze Blödsinn. Aber sie hat nie genau gesagt, was sie meinte. Sie hat nie ausgesprochen, was sie wirklich sagen wollte.
David lacht. Am Ende kam Tristan in dieselbe Mittelschule wie ich. Lustig, wie das Leben so spielt. Er schrieb mir Briefe … Zitate … Gedichte … Sprichwörter … neunmalkluge Kommentare, von denen er wusste, dass sie mich zum Lachen bringen würden.
Wir kamen heimlich wieder zusammen und waren jahrelang ein Paar, bis er von mir wollte, dass ich ihn meinen Eltern vorstelle. Ich konnte es nicht. Ich habe mit ihm Schluss gemacht. Er hat mit mir Schluss gemacht. Verdammter Teufelskreis.
Letztes Jahr … wollte er eine echte Bindung … er sprach von Familie und Kindern … Fast hätte ich es getan … aber dann doch nicht … Ich habe es beendet … und sein Herz gebrochen.
Er hat es nicht gut verkraftet. Er hat sich betrunken und ist zu meiner Geburtstagsparty in der Kneipe gekommen … er ist einfach aufgetaucht … und hält eine Art „Great Gatsby“-Rede auf mich … und er zögert … und ich weiß, was er tun will … Ich weiß, was er sagen will … aber schließlich tut er es nicht …
… stattdessen erzählt er, was ich für ein guter Freund für ihn gewesen bin … und macht einen Besserwisserwitz darüber, was ich für ein Aufreißer bin und dass ich nie häuslich werden werde … und mit Tränen in den Augen … beendet er die Rede mit … Auf die Verpflichtungen eines King. Klugscheißer! Und alle trinken darauf … sogar mein Alter.
King lacht und hält dann plötzlich inne. Tristan taumelt mit seinem Bier hinaus und hinterlässt einen alten Zettel auf dem Tisch. Einen, den er mir im Englischunterricht zugesteckt hat, als die Lehrerin einen seiner Lieblingsautoren mit lächerlichen Interpretationen massakrierte.
Er hat mich vor ein paar Tagen angerufen … und mich zu einer Party im Gold Lantern Café eingeladen. Eine Abschiedsparty … heute Abend … Er zieht nach New York. Irgendeine Anstellung als Pianist. Er geht mit einem Typen, den er gerade erst kennengelernt hat. Sie kennen sich nicht mal einen Monat und er begleitet ihn schon nach New York. Wie bescheuert ist das denn bitte?
Rik sagt gar nichts, während sie einen Augenblick lang zu den verblassenden Sternen hinaufblicken. Leise Tränen tropfen aus zwei engen Augenschlitzen. David räuspert sich und wischt die Tränen mit seinem Arm weg.
Willst du manchmal auch einfach aufhören?
Rik wendet sich David zu. Ich nehme an, man muss erst mal anfangen, bevor man aufhören kann. So wie ich das sehe … warst du immer dieser mutige Löwe, der sich den Tyrannen, das Arschloch, den Scheißkerl vorgeknöpft hat. Seit ich dich kenne, bewundere ich dich dafür. Du bist toll darin, alles zu verprügeln, was dir im Weg steht, außer vielleicht dich selbst. Ich denke, du könntest versuchen, Dinge aufzubauen, Dinge wachsen zu lassen, Dinge zu pflegen … Dinge wie dich.
Rik drückt seinen Arm. Du bist ein Löwe, Dave, und du wirst mich dafür hassen, aber … Du bist ein Zirkuslöwe, angeleint und angezogen wie ein Clown. Du musst das Seil und das Kostüm mit deinen eigenen Krallen und Zähnen zerreißen, wenn du je erfahren willst, wie es wirklich ist, du zu sein.
Du willst aufhören … dann hör auf, durch Reifen zu springen … hör auf, der Clown zu sein und werde einfach zu dem gottverdammten Löwen, als der du geboren wurdest. Du stehst kurz davor, etwas für den Rest deines Lebens bereuen, und das weißt du.
David blickt in die Leere.
Rik drückt noch mal seinen Arm. So wie ich das sehe … schuldest du jemandem eine Rede.
Du bist ein Idiot, wenn du glaubst, ich geh da einfach hin und crashe seine Party.
Du bist ein Idiot, wenn du nicht sofort losläufst.
ERINNERUNG 391[ | ]
David stürmt die Straße entlang und drängt sich in das Café. Er wirft einen Blick in den Raum und sieht Tristan und seine Freunde nicht. Er schreit einer Kellnerin auf der anderen Seite des Raums zu und zu seinem Entsetzen erzählt sie ihm, dass Tristan bereits zum Flughafen aufgebrochen ist. Ihre Worte treffen ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Er kommt zu spät und seine ganze Welt gerät ins Wanken. Er sammelt sich einen Augenblick. Dann trifft er eine Entscheidung und läuft auf die Straße, wo er wie wild nach einem Taxi brüllt. Ein Taxi hält am Bordstein. Der Fahrer sieht David an, zögert, startet dann den Taxameter und tritt aufs Gas.
Und schon rast David die Autobahn entlang und geht in seinem Kopf durch, was er Tristan sagen wird. Er hat Schwierigkeiten, Ideen und Worte zu finden, und hat das Gefühl, dass nichts, was ihm einfällt, gut genug ist. Das Taxi hält vor den automatischen Glastüren des Flughafens und David springt hinaus.
Der Fahrer schreit ihm hinterher. David eilt zurück, bezahlt ihn und hastet dann durch den Eingang in einen belebten offenen Bereich. Schnell wirft er einen Blick auf die Anzeige mit den Abflügen. Er sieht einen Flug nach New York. Er eilt durch das Terminal. Aber …
Das Sicherheitspersonal hält ihn auf! Ohne Bordkarte kann er nicht durch. David starrt den Mann an, versucht, zu Atem zu kommen, während er alles verarbeitet. Er versucht, seine Situation zu erklären, aber der Grobian will es einfach nicht einsehen.
David wendet sich ab und eilt zum Check-in-Schalter. Er kauft ein Businessclass-Ticket für den Flug nach New York. Dann läuft er zurück, passiert den Sicherheitscheck.
Er läuft schneller und schneller und ist beinahe da. Er wird das durchziehen. Er wird das wirklich durchziehen! Plötzlich stößt er gegen einen älteren Mann, der Gepäck auf einem Wagen schiebt und mit seinen graumelierten Haaren und dem kantigen Kiefer aussieht wie sein Vater. Er taumelt über den Boden, Furcht trifft ihn wie eine Faust und raubt ihm für einen Moment den Atem.
Nur für einen Moment.
Im Chaos sieht er Tristans Nachricht auf dem Boden. Er nimmt sie. Hält sie. Erinnert sich. Der Mann fährt David an, er solle vorsichtig sein. Aber das ist das Letzte, was David jetzt sein will, als er den Brief wieder einsteckt, über einen Haufen Gepäck klettert und davonstürmt.
Wenige Augenblicke später sieht er das Gate. Er sieht Tristan …
Wie er mit seinem Partner lacht.
Glücklich.
David bleibt wie erstarrt stehen. Schuldgefühle brechen über ihn herein wie eine Ziegelmauer und wühlen in seinen Eingeweiden. Sofort fängt alles an, sich zu drehen, und er merkt …
Er wird sich übergeben!
David macht kehrt, eilt mit auf den Mund gepresster Hand zur Toilette und stürmt in eine Kabine, um seinen Magen zu entleeren. Dann hinkt er hinaus, wäscht sich den Schmutz vom Gesicht und fühlt sich wie der egoistischste Mensch auf der Welt. Sein blutiges und geschwollenes Gesicht fällt in sich zusammen, als er plötzlich einsieht, dass er, wenn er Tristan liebt … wenn er Tristan wirklich liebt …, ihn gehen lassen muss.
Rik hat ihm etwas eingeredet und er ist betrunken. Das ist alles. Jetzt muss er sich einfach nur für Tristan freuen. Sich für ihn freuen, nach Hause gehen und diese verrückte Nacht hinter sich lassen.
ERINNERUNG 392[ | ]
David lässt Gate 72 hinter sich und in seinem Kopf dreht sich alles. Er weiß, dass er nicht klar denkt und dass es egoistisch ist, Tristan zurück in sein Chaos zu ziehen. Er hat eine Entscheidung getroffen und jetzt muss er verdammt noch mal mit ihr leben.
David nähert sich dem Sicherheitsbereich und sein Herz fühlt sich an, wie in einem Schraubstock. Er kann sich nicht bewegen. Etwas, das größer ist als seine Zweifel, seine Schuldgefühle und seine Angst, lässt nicht zu, dass er auch nur einen Schritt weitergeht.
Seine Hand gleitet in seine Tasche und er dreht die Nachricht immer wieder zwischen den Fingern. Dann flackern Erinnerungen an die Dinge auf, die sie durchgemacht haben.
Wie könnte er ihn gehen lassen? Der, dessen Stimme ihm als einzige Frieden verschaffen konnte, dessen Lachen ihm als einziges Freude schenken konnte, dessen Atemzüge ihn mit Leben erfüllten und wegen dessen Worten er ein besserer Mann sein wollte.
Wie könnte er gehen, ohne es überhaupt zu versuchen? Ohne ihm zu zeigen, dass er – schlussendlich – doch bereit war, alles für das zu tun, was sie hatten.
David erkennt: Wenn er diesen Moment nicht nutzt, wird er es nie wissen. Und die Reue wird ihn zerstören. Tristan vervollständigt ihn nicht nur, er macht ihn lebendig. Niemand hat sonst je diese Wirkung auf ihn gehabt. Plötzlich …
Erwacht er zum Leben.
Und dreht sich um.
Und er läuft!
Ich weiß nicht, was ich sagen werde … aber ich werde etwas sagen … irgendetwas … Ich sage, was auch immer mir einfällt … vielleicht … vielleicht diese drei Worte aus seinem Lieblingsfilm …
Energie durchströmt David wie ein Blitz, macht ihn schneller, stärker und irgendwie sicher, obwohl er keine Ahnung hat, was er sagen oder tun wird. Er läuft einfach und sein Lauf wird zu einem taumelnden Sprint, als er Tristan mit seinem Partner sieht …
Wie sie einsteigen wollen.
Sein Mund öffnet sich zu einem stummen Schrei, als er stolpert und hinschlägt.
David … Bist du das?
Tristan greift nach Davids Hand und hilft ihm auf die Beine.
David richtet sich auf und versucht, trotz seines verprügelten Gesichts und des Geruchs von Bier, Erbrochenem und Eau de Cologne einen akzeptablen Eindruck zu machen. Er riecht, als hätte jemand auf ein Blumenbeet gekotzt, und das weiß er auch.
Aber er vergisst, wie er aussieht und riecht, während er versucht, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken. Er atmet tief ein, atmet aus und beruhigt sich. Dann greift er nach Tristans Hand und hält sie fest. Die Worte in seinem Hals sind schwer wie Zement und ihm fällt nichts Kluges oder Poetisches ein. Er versucht, sich an die Zeile aus dem Film zu erinnern, aber ohne Erfolg.
Tristans Partner tritt an sie heran, aber Tristan bittet ihn um Geduld, als er David zur Seite zieht.
Was ist los, David? Was in aller Welt ist mit dir passiert?
David will Tristan sagen, dass er ihm alles bedeutet. Er will sagen: Ich liebe dich! Aber stattdessen sagt er …
Schluss mit der Scheiße.
Tristan wiederholt die Wörter langsam und versucht sie zu verstehen.
David flüstert sie immer und immer wieder, während er verzweifelt darauf wartet, dass Tristan etwas sagt, irgendetwas. Tristan sagt gar nichts, aber seine Augen werden glasig und er sieht plötzlich gleichzeitig glücklich und traurig und sehr verwirrt aus.
ERINNERUNG 393[ | ]
In der Dunkelheit der verregneten Nacht taumelt David eine Straße entlang, die er nicht kennt. Durchnässt, frierend, ein fast vergessenes Volkslied auf den Lippen. Er hat nie ein Ende wie aus dem Märchen erwartet und natürlich versteht er, dass Tristan Zeit braucht, um alles zu überdenken. Wie viel Zeit? Hoffentlich nicht viel. Nur so viel, dass er direkt aus dem Flugzeug steigen und ihn anrufen wird, um zu sagen …
… wie Ihr wünscht …
Verdammt!
Jetzt erinnert er sich daran!
Genau zum falschen Zeitpunkt.
David schmunzelt. Auch egal. Er hat sich in seinem Leben noch nie so gut, so frei, so euphorisch gefühlt. Er lässt das Gefühl wie eine sanfte Brise über sich hinwegwehen und kommt sich vor, als würde er neu geboren – oder zum ersten Mal geboren. Ihm ist, als wäre er vor dieser Nacht nur eine leere Hülle ohne eigenes Bewusstsein gewesen und hätte nichts gespürt als die Angst, die sein Leben beherrschte.
Sobald Tristan gelandet ist, hofft er, dass er einen Anruf bekommt und ins nächste Flugzeug steigen kann. Falls er jemals seine Brieftasche wiederfindet. Egal. Wenn er vom Flughafen nach Hause spazieren kann, kann er auch über den Teich schwimmen. Er lacht und denkt, dass seine Geldbörse schon irgendwo auftauchen wird. Das tut sie immer.
Aber was, wenn er anruft, um Schluss zu machen.
Der Gedanke kommt überraschend.
So wird es wahrscheinlich kommen. Die Wahrheit ist, dass die Liebe nicht triumphiert und unsere Ängste immer die Oberhand gewinnen. Deshalb werden Märchen geschrieben. Um den endlosen Enttäuschungen und gebrochenen Herzen des wahren Lebens zu entkommen. Egal, was du glaubst, eure Liebe ist nicht stark genug, und wenn er anruft, dann nur, um dir zu sagen, dass es vorbei ist. Ein für alle Mal. Weil er sich von dir nicht noch mal das Herz brechen lassen wird.
David übertönt die Gedanken, indem er immer lauter singt. Dann bleibt er plötzlich stehen, als er einen Park sieht, an den er sich dunkel erinnert. Er sieht aus wie der Park, wo er und Tristan den ganzen Tag lang auf einer Bank gesessen und Menschen beobachtet haben.
Er geht durch das Tor und einen Moment lang hört er Tristans Stimme, die mit ihm singt. Er hält inne. Er sieht sich um, aber durch die dicht peitschende Regenwand kann er nichts erkennen.
David geht weiter, vorbei an schlummernden Büschen und herabhängenden Blumen unter einem dicken Kronendach, von dem Regen tropft. Er geht weiter, bis er ein leises Flüstern hört.
Schluss mit der Scheiße.
Er dreht sich um und sieht …
Tristan.
Er reibt seine zugequollenen Augen und starrt ihn ungläubig an.
Tristan lacht. Nur du kannst so was von dir geben.
Es kann nicht … es ist … unmöglich …
David kneift die Augen zusammen und fokussiert Tristans Silhouette. Er muss aus dem Flugzeug ausgestiegen sein. Oder vielleicht ist er auch nie eingestiegen. Er versteht nicht recht, was hier passiert, aber er ist nicht so dumm, sein Glück infrage zu stellen.
David läuft auf Tristan zu, um ihn zu umarmen, aber als er ihn berührt, verwelkt er wie eine tote Blume. Keuchend sinkt David auf die Knie und versucht verzweifelt, die herabfallenden Blütenblätter zu fangen, die in seinen Händen schwinden und durch seine Finger in einen aufziehenden Nebel rinnen.
Er hat kaum Zeit, zu verstehen, was passiert, als er schmatzende Schritte hört, die sich durch den Schlamm und das Wasser um ihn herum nähern. Langsam hebt er den Blick und sieht jeden einzelnen Tyrannen, Verbrecher und Scheißkerl, den er je erledigt hat, auf sich zukommen. Er folgt seinem Instinkt und kneift sich, aber nichts ändert sich.
Mit einem tiefen resignierten Seufzen steht David auf, hebt sein Kinn und stürzt sich ins Getümmel. Er packt, holt aus und tritt, bis er als letzter Mann noch steht. Dann ziehen ihn glitschige Ranken schwarzen Nebels in eine Welt der Dunkelheit, die das Licht der Liebe nie gekannt hat.
Charlotte und Victor Deshayes: Für immer Seite an Seite[ | ]
ERINNERUNG 6903[ | ]
Ein Windstoß fährt durch die Blätter im Wald. Charlotte will nach Westen, so weit fort vom Tempel wie möglich. Wenn sie ein paar Vorräte auftreiben kann, schafft sie es vielleicht bis zur Küste. Ihre Mutter hatte ihr einst von dem Traum erzählt, über den Ozean nach Westen zu segeln … in eine andere Welt. Vielleicht … würde Charlotte diesem verhassten Ort entkommen und ein neues Zuhause finden. Hinter ihr knackt ein Ast. Sie dreht sich um und drückt Victor instinktiv fester an ihre Brust. Folgt ihnen jemand? Sie eilt weiter und erreicht eine Steinbrücke, die zu einem Dorf an einem moosbewachsenen Hügel führt. Es ist riskant, im Dorf anzuhalten, aber sie braucht Vorräte. Charlotte legt Victor in das Tuch, das sie sich um den Oberkörper gewickelt hat. Er ist zu schwach, um sich zu bewegen. Zu schwach, um zu sprechen. Was die Schwarzverhüllten ihm im Tempel angetan haben … hat ihn verändert. Damit er wieder zu Kräften kommt, muss sie Nahrung und Medizin auftreiben. Sie folgt den engen Straßen des Dorfs zum Markt. Ihre Mutter hat ihr beigebracht, wie sie alles Nötige von einem Verkaufsstand bekommt. Ablenken und nur das nehmen, was man tragen kann. Gehen, bevor man auffällt. Besser auf Nummer sicher gehen und nicht gefangen werden. Sie sieht einen Händler, der Kräuter und Salben verkauft. Medizin ist essenziell. Charlotte zieht sich die Kapuze ins Gesicht und nähert sich dem Stand langsam. Dann wartet sie auf eine Gelegenheit. Als sich der Händler zu einem anderen Kunden umdreht, streckt sie ihren Arm aus und nimmt sich ein paar Phiolen. Dann sieht sie einen Haufen Obst im hinteren Bereich des Stands. Riskant … aber der süße Duft reifer Äpfel ist betörend. Sie wirft einen Blick auf den Händler, der gerade angeregt feilscht. Sie duckt sich und schleicht sich langsam an ihm vorbei. Als sie nach dem Obst greift, sieht sie, was darunter liegt: Räucherkäse. Sie nimmt sich ein großes Stück und steckt es mit ein paar Äpfeln in ihre Tasche. Dann duckt sie sich unter dem Stand hindurch und verlässt ihn auf der anderen Seite. Der Händler bleibt nichtsahnend zurück. Hastig geht sie die Straße entlang, in der Bettler ein Feuer aus Müll entfachen. Es stinkt, aber die Wärme der Flammen fühlt sich gut an. Plötzlich fällt eine schwere Hand auf ihre Schulter. Ein großer Mann mit einem Bogen in der Hand blickt auf sie herab. Er lächelt bedrohlich. Jäger haben von dir gesprochen. Du wirst mich zu einem reichen Mann machen. Charlotte tritt gegen den brennenden Abfallhaufen, Glut fällt zu Boden und entzündet eine Weinpfütze. Die Panik verbreitet sich schneller als die Flammen und Dorfbewohner stoßen die Bettler weg, die versuchen, das Feuer auszutreten. Charlotte nutzt den Aufruhr und rennt los. Aber der bedrohliche Dorfbewohner bekommt ihre Tasche zu fassen und zwingt sie so zum Anhalten. In Panik zieht sie am Riemen ihrer Tasche, wodurch ihr Inhalt auf den Boden fällt. Dann läuft sie mit voller Geschwindigkeit, bis sie die Steinbrücke erreicht. Ein Blick über ihre Schulter zeigt ihr, dass schwarzer Rauch über dem Dorf aufsteigt. Ihr Magen dreht sich um. Sie hat schon einmal ein Gesicht gesehen, das die Flammen geküsst hatten, Wangen, die wie trockenes Laub verkohlt waren. Sie beißt sich auf die Zunge, um die Erinnerung zurückzudrängen. Sie darf nicht langsamer werden. Die Dorfbewohner könnten ihr auf den Fersen sein. Sie eilt in den Wald und läuft, bis sie keinen Rauch mehr in der Luft riechen kann.
ERINNERUNG 6904[ | ]
Charlotte erreicht einen schlammigen Teil des Waldes. Wenn sie diesen Weg weitergeht, hinterlässt sie eine Spur. Das kann sie gerade nicht riskieren. Einer der Dorfbewohner könnte sie verfolgen. Der Fluss ist die sicherere Route, da sie dort keine Spuren hinterlässt. Sie macht einen Schritt in das eisige Wasser, das ihre übergroßen Stiefel aufspritzen lassen. Sekunden später sind ihre Kleider patschnass. Wenn der Wind bläst, fühlt sich ihr eiskalter Körper an, als würde er in Flammen stehen. Nachdem sie einige Stunden durchs kalte Wasser gewatet ist, steht sie vor einem gewaltigen Wasserfall. Hier ist ihr Weg zu Ende. Ein Plateau liegt über ihr, auf halber Höhe zwischen dem Fluss und dem oberen Rand des Wasserfalls. Es wäre ein schwieriger Aufstieg, aber nicht unmöglich. Wenn sie das Plateau erreicht, kann sie jeden Dorfbewohner sehen, der ihr auf den Fersen ist. Sie könnte zum ersten Mal seit Wochen ruhig schlafen. Sie blickt zu Victor herab, der noch immer in ihr Tuch gewickelt ist, und erkennt, wie bleich er aussieht. Beide brauchen Ruhe. Charlotte sieht sich die Felswand um den Wasserfall genau an und sucht nach Halte- und Griffmöglichkeiten auf dem Felsen. Dann zieht sie das Tuch enger um Victor, um ihn zu fixieren. Sie geht zur Klippe und greift nach der Felswand. Einen Fuß hoch. Dann den anderen. Ihre Arme werden zuerst müde. Sie stellt sich mit dem rechten Fuß auf einen hervortretenden Stein und verlagert ihr Gewicht, um ihre Muskeln zu entspannen. Aber ihre Ferse rutscht aus dem zu großen Stiefel. Sie blendet die Schmerzen in ihren Armen aus, hält sich an der Klippe fest und tritt mit dem Fuß fest gegen den Felsen, um den Stiefel wieder zurechtzurücken. Aber unter diesem Druck bewegt sich der Stein und wird locker. Plötzlich ist da nichts außer Luft unter ihrem rechten Fuß. Gemeinsam mit ihrem Stiefel fällt der Stein die Klippe hinunter und in den Fluss. Charlottes Arme zittern und sie kann sich nicht bewegen. Ihre Finger verlieren nach und nach den Halt. Bald wird sie herabfallen wie der Stein und in den Tod stürzen. Ihr Atem wird hektisch und flach. Ist das das Ende? Sie hat Victor versprochen, ihn zu retten. Dass sie eines Tages frei sein würden. Ist das alles, was sie tun kann? Ein brutaler Sturz in den Tod? Nein, sie hat es ihm versprochen. Sie würde ihn retten. So wie sie Maman gerettet hat? Charlotte schließt ihre kribbelnden Augen. Ihr letzter Finger rutscht ab.
ERINNERUNG 6905[ | ]
Charlotte fühlt etwas Kaltes an ihrer Schulter. Sie öffnet ihre Augen und sieht dort Victors Hand. Das ist ihr Signal. Er berührt ihre Schulter, wenn er etwas braucht. Sie hielt seine Hand, wenn sie seine Aufmerksamkeit brauchte. Aber er ist zu schwach, um sich zu bewegen. Hat er seine Position verändert, als der Stein unter ihr wegrutschte? Es sei denn … er hat Angst, wie sie. Vielleicht fleht er sie an, ihn zu retten. Charlotte atmet tief ein und achtet nicht auf ihre brennenden Arme. Sie sieht hoch und erblickt einen weiteren großen Felsen zu ihrer Rechten, ein wenig höher. Wenn sie springt, kann sie ihn erreichen. Aber nur eine falsche Bewegung und sie landet im Fluss und ihr Kopf auf den Felsen. Ihr Herz schlägt wie verrückt, aber sie ist nicht mehr gelähmt. Victor braucht sie. Und sie würde alles tun, um ihn zu retten. Charlotte gräbt ihre Nägel in die Felswand, zieht sich mit aller Kraft hoch und springt. Als sie durch die Luft fliegt, erfasst sie die Panik. Dann landet ihr rechter Fuß auf dem höheren Felsen, der sofort unter ihr wegrutscht. Entsetzt bemerkt sie, wie sie sich langsam Richtung Abgrund neigt. Hektisch greift sie nach der Wand, wedelt mit den Armen und achtet dabei nicht auf die spitzen Steine, die ihr Fleisch aufreißen und es brennen lassen. Sie schließt ihre Augen, als sie nach unten rutscht … aber dann findet sie mit dem rechten Arm Halt und kann den Sturz verhindern. Während sie sich festhält, findet ihr rechter Fuß stabilen Stand und sie verlagert ihr Gewicht vorsichtig darauf. Ihre Ohren klingeln wie verrückt und sie drückt ihren ganzen Körper gegen die zerklüftete Klippenwand. Sie blickt über ihre Schulter zu Victor. Er steckt sicher in ihrem Tuch. Charlotte beißt die Zähne zusammen und blickt nach oben. Der Rand des Plateaus liegt etwa eine Toise über ihr. Sie kann es schaffen. Charlotte findet einen Griff für ihren linken Arm. Dann zieht sie sich hoch. Einen Fuß hoch. Dann den anderen. Immer weiter, eine gefühlte Ewigkeit lang. Bis nach ganz oben, bis sie sich sicher über den Rand des Plateaus hievt.
ERINNERUNG 6906[ | ]
Charlotte bricht auf dem Plateau zusammen. Während des Aufstiegs hat sie einen Moment lang gedacht, es wäre vorbei. Die Angst vor dem Tod ist kein Anlass zur Scham. Aber etwas anderes ist passiert. Eine Sekunde lang hat sie beim Gedanken an ihren Tod eine kurze Erleichterung verspürt. Und das macht ihr noch mehr Sorgen als die Hexenjäger. Mehr als die schwarzen Kutten. Denn das bedeutet, dass sie Victor hintergangen hat. Einen Moment lang hat sie ihn aufgegeben. Wie konnte sie nur so feige und … egoistisch sein? \t Charlotte drückt ihre Hand auf seine Wange. Eiskalt. Ist er bereits fort? Nein. Das könnte sie nicht hinnehmen. Ihn zu verlieren wäre, wie in einem Grab zu liegen und darauf zu warten, dass die Erde einen erstickt. Er ist sie. Und sie ist er. Sie sind eins. Sie streicht über seine bleiche Wange. Ich verspreche dir, dass ich dich eines Tages weit wegbringen werde. Und wir werden in Sicherheit sein, für immer. Ein dunkler Nebel wabert zu ihren Füßen, als ihre Augenlider schwer werden … Dann schließen sich ihre Augen.
ERINNERUNG 6907[ | ]
Charlotte öffnet ihre Augen. Sie setzt sich langsam auf … Sie ist wohl in Ohnmacht gefallen? Anstatt die Aussicht zu betrachten, sieht sie hinab zu Victor, der zu schlafen scheint. Ist er …? Nein. Charlotte kann etwas Farbe auf seinen Wangen erkennen. Er wird gesund werden. Sie kommt wieder auf die Beine und sieht sich um. Ein Wald aus Nadelbäumen liegt vor ihr. Und hinter ihr … der Anblick lässt sie keuchen. Hohe Kiefern erstrecken sich im Westen die Küste entlang, wo dunkle Wellen gegen einen langen, schaukelnden Anleger schlagen. Ein Hafen voller Schiffe, die in den Westen wollen. Um den Blick auf den Ozean zu genießen, setzt sich Charlotte auf ein Bett weicher Äste. Die Sonne geht gerade unter und taucht den Himmel in ein blutiges Rot. Sie lockert ihr Tuch und enthüllt Victors Gesicht, sodass er die Boote sehen kann. Sie greift nach seiner Hand und drückt sie. Eiskalt und steif. Charlotte unterdrückt ein Schluchzen. Alles ist gut. Victor ist nur von der Reise geschwächt. Er ist immer noch da, bei ihr. Heute Abend werden sie sich ausruhen und dann wird es ihm besser gehen. Unter ihnen segeln große Schiffe dem nebelverhangenen Horizont entgegen auf ihrem Weg weiter nach Westen. Sie erinnern sie an den Traum ihrer Mutter. Als die Schwarzverhüllten ihr das Schlimmste antaten, hat sie sich an den Worten ihrer Mutter festgehalten. Charlotte hat nie wirklich an den Traum ihrer Mutter geglaubt, in den Westen zu segeln. Es war nur eine schöne Fluchtmöglichkeit. Aber nun ist es Zeit zu glauben. Ein neuer Traum für ein neues Leben. Charlotte nimmt ihre Haube ab und wickelt sie um Victors Hände. Weißt du, was hinter dem Horizont liegt? Maman hat es mir mal gesagt. Sie hat von diesem Ort geträumt, bevor sie krank wurde. Sie hat mir erzählt, dass jenseits des Ozeans eine andere Welt liegt. Ein Ort mit sauberen Flüssen und süßem Sirup, der von den Bäumen tropft. Eine ganz andere Welt, in der wir frei sein können. Siehst du das große Schiff da unten? Keine Antwort. Vielleicht hat Victor Angst davor, seine Träume auszusprechen. Einige Träume sind zu zerbrechlich, als dass man sie aussprechen könnte. Aber ihre nicht. Charlotte streicht einen Regentropfen von Victors bleicher Braue. Alles wird gut, Victor. Stell dir nur die Reise mit mir vor. Eines Tages werden wir weit weg segeln. Wir schlafen dann in einem Bett aus Seilen, das in der Luft hängt. Jede Welle lässt unser Bett schaukeln, sodass es uns in den Schlaf wiegt. Nach ein paar Wochen erreichen wir dann wieder Land. Dort suchen wir uns ein kleines Haus an einem Bach. Am Morgen arbeiten wir auf einem Feld voll goldener Pflanzen. Jeden Tag trinken wir von der Sonne und essen vom Mond. Und kein Sturm wird uns erreichen. Keine Männer werden uns verbrennen. Keine Monster werden uns wehtun. Wir werden gemeinsam in Freiheit leben. Unser Leben wird so normal sein, dass du unsere Abenteuer vermissen wirst. Vielleicht wirst du eines Tages sogar diesen Ausblick vermissen … Das verspreche ich dir. Eines Tages werden wir frei sein. Wir werden einen Ort finden, wo wir hingehören. Wir drei. Ihre Stimme bricht. Nein, zu dritt können sie nie wieder sein. Ihre Mutter ist fort. Charlotte sieht zu Victor hinab. Er ist so schwach, dass sie kaum erkennen kann, wie seine Brust sich hebt. Nein, er ist nur krank. Er muss sich ausruhen. Sie darf ihren Zweifeln keinen Raum lassen. Wenn sie das tut, wird sie als Nächste sterben. Und dann wären sie alle drei verloren. Charlotte schließt die Augen. Sie kann beinahe die üppigen Blätter spüren, die ihre Beine streicheln, während sie durch ein weites Feld läuft. Victor lacht in ihren Armen. Sie sind weit weg von hier …
ERINNERUNG 6908[ | ]
Kalte Winde peitschen gegen die Klippe und heulen wie hungrige Tiere. Ein Singvogel weckt Charlotte. Sie öffnet ihre Augen und spürt, wie jeder Zentimeter ihres Körpers sich vor Schmerz sträubt. Ihr Hals fühlt sich an, als wäre er voll Sand. Ihre Schläfen pochen. Ihr ist übel. Sie sieht zu Victor hinab, der in der Nacht noch bleicher geworden ist. Ihre Finger schließen sich zu einer Faust. Wie soll sie sich um ihren Bruder kümmern, wenn sogar ihre eigene Mutter dabei versagt hat? Charlotte fühlt sich ohne sie so verloren. Sie blickt auf und sieht den singenden Vogel: einen kleinen Spatz. Bilder blitzen vor ihrem inneren Auge auf: weiche Federn, scharfe Krallen und ein zarter Hals in ihren Händen. Blut tropft von ihrer Braue, während schwarze Kutten auf sie einschlagen, bis sie die Hände um den Hals des Spatzen legt und ihn dreht. Sie haben sie dazu gezwungen, Abscheuliches zu tun. Aber sie ist kein Monster. Dennoch wurde sie so behandelt. Und warum? Weil Victor ein Teil von ihr und sie ein Teil von ihm ist. Sie sind eins, verbunden durch Blut und Knochen. Sie vergießen doppelt so viele Tränen, wenn sie verletzt sind. Sie lachen doppelt so viel, wenn sie froh sind. Und selbst in den dunkelsten Stunden sind sie nicht allein. Für immer Seite an Seite. Wer könnte das noch von sich behaupten? Und doch zahlen sie einen hohen Preis für dieses Geschenk. Sie sind aus demselben Blut und Knochen. Wenn einer stirbt, was bleibt dann noch?
ERINNERUNG 6909[ | ]
Der Nachthimmel ist klar und mit Sternen übersät. Charlotte fühlt sich zu schlecht, um sich zu bewegen. Victor muss es noch schlechter gehen. Oder …? Ein tiefes, wildes Knurren ertönt aus dem Wald. Charlotte sieht kaum die Hand vor Augen, aber die Härchen in ihrem Nacken stellen sich auf. Etwas beobachtet sie im Dunkeln. Sie greift nach Victors Hand. Bleib ruhig. Sie hält einen großen Ast in ihren zitternden Händen, als sie auf das Geräusch zugeht. Es ist bekannt, dass Wölfe weit von Dörfern entfernt jagen. Je weiter sie geht, desto höher wird das Risiko, dass sie einen trifft. Während sie in die Dunkelheit blickt, erkennt sie eine leuchtend rote Spur auf dem funkelnden Schnee. Weiter vorne liegt ein großer Wolf im Schnee. Sein graues Fell ist mit Blut besudelt. Ein Pfeil steckt in seinem Hals. Jäger müssen ihn zum Sterben zurückgelassen haben. Der Wolf knurrt, als sich seine dunklen Augen auf sie legen, aber er scheint zu schwach, um sich zu bewegen. Dann hört sie einen schrillen Schrei. Ein kleiner weißer Welpe versteckt sich unter dem Bein des Wolfs. Ein sterbender Wolf und sein jammerndes Kind, wie sie ums Überleben ringen. Charlotte weiß, was sie tun muss. Und sie hasst sich selbst dafür. Sie beugt sich vor und nimmt den kleinen Welpen in ihre Hände. Er schnappt nach ihren Fingern, aber seine Zähne sind zu klein, um ihr wirklich wehzutun. Heulend versucht der Wolf, wieder auf die Füße zu kommen, aber seine Beine geben unter seinem Gewicht nach und er fällt in den Schnee. Charlotte ignoriert das Winseln des sterbenden Wolfs und gräbt ein Loch im Schnee, das zu tief ist, als dass der Welpe herausklettern kann. Als Charlottes eigene Mutter vor Pein schrie, wünschte sie sich, jemand möge ihr Leid beenden. Charlotte nähert sich der Wolfsmutter mit zitternden Händen. Der Wolf stößt ein Grollen aus, als sie den Pfeil nimmt. Mit einer schnellen Bewegung zieht sie ihn heraus. Der Wolf heult vor Schmerz auf und sackt zusammen. Der Welpe ruft eine Antwort und gräbt hektisch im Schnee. Charlotte fuchtelt mit ihrem Ast vor dem Welpen herum und schreit. Lauf! LAUF! Der Welpe knurrt schwach … und verschwindet dann in die Nacht. Charlottes Blick verschwimmt, als sich die Tränen mit den Bluttropfen auf ihrem Gesicht vermischen. Ist sie denn besser als diese Jäger? Der Wolf war schon dem Tod geweiht. Solch unnötiges Leid war grausam. Und die Jäger hätten seinen Welpen gefangen, wäre er in der Nähe geblieben. Ein Leben in Gefangenschaft bei den Mördern seiner Mutter. Nein, Charlotte hat ihnen beiden einen Gefallen getan. Sie weiß, wie es ist, von solchen Monstern gefangen gehalten zu werden.
ERINNERUNG 6910[ | ]
Charlotte kann nicht aufhören zu weinen. Ihre Reue, den Wolf getötet zu haben, schnürt ihr die Brust immer enger zu. Noch vor zwei Jahren wäre sie nicht im Stande gewesen, ein Lebewesen zu töten. Aber wäre es denn menschlich, ein unschuldiges Lebewesen qualvoll sterben zu lassen? Sie wäre lieber gegangen. Aber sie weiß es besser. Das Leid ihrer Mutter hat sie klüger gemacht. Als ihre Mutter von Hexenjägern gefangen wurde, hat Charlotte sich eingeredet, es nichts gäbe nichts, was sie tun könnte. Aber das stimmte nicht ganz. Die Jäger schliefen in einer Holzhütte hinter der Kirche, in der Nähe des Walds. Die Hütte war so alt und trocken, dass ein einziger Funke sie hätte in Brand stecken können. Und doch hat sie nur auf den Prozess gewartet. Dann musste sie zusehen, wie ihre eigene Mutter verbrannte. Es hat noch andere verpasste Gelegenheiten gegeben, das Leiden von Unschuldigen zu verhindern. Jedes Mal hat die Stimme ihrer Mutter sie zurückgehalten: Lass dich von niemandem dazu bringen, ihn zu hassen. Am Ende wirst du nur dich selbst dafür hassen. Aber Maman ist jetzt fort. Charlotte musste zusehen, wie die Flammen ihr Gesicht schmolzen, während sie vor Qualen schrie. Jetzt hat sie nur noch Victor. Sie sieht zu ihm hinab. Seine Wangen schimmern bläulich. Vielleicht ist es schon zu spät für ihn. Gilt das nicht auch für sie? Nein, er wird gesund werden. Sie sind eins, verbunden durch Blut und Knochen. Er würde sie nie allein lassen.
ERINNERUNG 6911[ | ]
In der Morgendämmerung wird Charlotte von einem lauten Geräusch geweckt. Ein Haufen Asche liegt zu ihren Füßen, das Feuer ist längst erloschen. Hinter ihr knackt etwas. Ein großer Mann tritt zwischen den Bäumen hervor. Sie erinnert sich an ihn. Der Dorfbewohner, der ihre Tasche auf dem Markt zerrissen hat. Er hebt seinen Arm. Sein Bogen kommt zum Vorschein. Charlotte packt die Angst, als sie sieht, wie er ihn spannt. Taumelnd kommt sie auf die Beine und eilt in den Wald. Während Pfeile neben ihr einschlagen, hält sie den Blick starr auf den Boden gerichtet, um hervorstehenden Wurzeln auszuweichen. Sie verfällt in Panik, wird schneller und ihr linker Fuß trifft auf einen Stumpf, wodurch sie ihr Knöchel unnatürlich verdreht. Sie taumelt und stürzt zu Boden. Ein Pfeil landet neben ihrem Gesicht und ritzt ihre Wange auf. Charlotte unterdrückt einen Schrei, als sie wieder auf die Füße kommt. Ihr Knöchel pocht vor Schmerzen. Dann durchbohrt etwas Spitzes ihr Bein und alles verlangsamt sich. Sie fällt auf die Knie, schaut nach hinten und sieht den Pfeil in ihrer Wade. Ein Stromstoß durchfährt sie. Sie schreit vor Qualen. Keuchend sieht sie zu Victor hinab. Seine Augen sind leer, als würden sie auf den Tod warten. Sie hat es ihm versprochen …
ERINNERUNG 6912[ | ]
Charlotte beißt die Zähne zusammen und macht einen Schritt vorwärts, ihr verletztes Bein zieht sie nach. Die Schmerzen sind unerträglich, aber sie ignoriert sie. Victor braucht sie. Als sie hochsieht, erblickt sie eine große Eiche, die über einem kleinen Hügel thront. Sie könnte sich dort verstecken. Jeder Schritt bergauf ist ein qualvoller Kreislauf aus Reißen und Brennen. Sie beißt sich auf die Zunge, um nicht zu schreien, und schmeckt Blut. Als sie oben ist, versteckt sie sich hinter der Eiche, und ringt nach Luft. Aber ihr Blick verschwimmt und sie bricht in einem Laubhaufen zusammen. Die Pfeilspitze hat sich unter ihre Haut gegraben und zerreißt das Gewebe. Sie drückt ihre Handfläche gegen ihre brennende Wunde. So viel Blut. Es klingelt in ihren Ohren. Sie kann nirgendwohin. Es gibt kein Entkommen. In die neue Welt zu segeln, ist ein unmöglicher Traum. Hinter ihr knackt ein Ast. Charlotte streichelt Victors Wange. Sie sind eins, verbunden durch Blut und Knochen. Er ist sie und sie ist er. Wenn einer stirbt, was bleibt dann noch? Vor Schmerzen stöhnend setzt sie sich langsam auf. Nichts wird sie trennen. Nicht mal der Tod. Sie sind Seite an Seite. Für immer.
Logs, Geschichten und Notizen: Das Haus Arkham[ | ]
Jahr sieben. Tag 189. Morgen.[ | ]
In den endlosen Weiten dieser dunklen Dimension haben wir eine erstaunliche Entdeckung gemacht. Ein Turm, der einem Leuchtturm ähnelt und uns in einem dichten Ozean des Nebels mit Musik lockt. Einige von uns haben die Melodie erkannt und eilten durch den Nebel, um herauszufinden, dass der Turm von seinen ehemaligen Bewohnern verlassen worden war.
Jahr sieben. Tag 189. Nachmittag.[ | ]
Ich habe immer noch keine klare Vorstellung davon, wer in diesem Turm gelebt hat. Ich weiß nur, dass sie Golf und Whiskey mochten und umfangreiche Aufzeichnungen über Menschen führten, die in dieser Dimension gefangen waren.
Jahr sieben. Tag 189. Nacht.[ | ]
Manche nennen unser vorübergehendes Zuhause Chateau Arkham, manche das Arkham-Hotel und der Drehbuchautor, James Rich, besteht darauf, es das Haus Arkham zu nennen, weil es ihn an ein Comicheft erinnert, das auf einer Lovecraft-Geschichte basiert. Wir haben die Zimmer ausgeräumt und ich habe mir das Arbeitszimmer gesichert, in dem ich Schallplatten und Kassetten mit Geschichten und Tagebüchern gefunden habe, die der vorherige Bewohner vorgelesen hat. Das Chateau, mein bevorzugter Name, beherbergt Gegenstände und Technologien aus anderen Welten, die schwer zu verstehen sind. Es gibt eine Vorrichtung im Keller, die komplett hinüber ist. Sie strahlt eine blaue Energie aus und scheint Erinnerungen aus der Atmosphäre zu manifestieren. Ich habe den Keller für tabu erklärt, bis wir mehr wissen.
Jahr sieben. Tag 189. Nachsatz.[ | ]
Ein paar von uns haben vor dem Zubettgehen Geschichten gelesen und etwas Whiskey getrunken. Gutes Zeug. Hilft einem, zur Ruhe zu kommen.
James Rich. Tagebuch eines Lichtspiels. Von Träumen und Wahnsinn.[ | ]
Ich habe versucht, einen groben Entwurf dieser Geschichte zu erstellen, aber ich spüre langsam, dass ich die Formel für die früheren Filme, die ich geschrieben habe, verwerfen und etwas Neues ausprobieren sollte. Die Wahrheit ist … Ich verstehe gar nichts davon … Es ist, als würde man in einer Welt grenzenloser Fantasie leben, in der alles passieren kann. Damit will ich sagen, dass der Weg zu diesem Turm sich genauso unmöglich anfühlt wie all die Gesichter und schemenhaften Erinnerungen, die wir im endlosen Nebel gesehen haben, der uns zu umfangen und zu quälen scheint. Du kannst deinen letzten Dollar darauf verwetten, dass du Lovecraft in einer Zwangsjacke sehen wirst, wie er am Boden zuckend all dieses unmögliche Grauen erfindet, wenn du nur lange genug durch diesen Nebel gehst. Und alles, was ich bin und je sein werde, ist nur ein Hirngespinst, das seinem Wahnsinn entsprungen ist. Es ist ein seltsamer Gedanke. Ich habe diese Idee anderen gegenüber erwähnt, und sie stimmten mir zu, dass dieser Turm sich wie ein Haus oder ein Hotel anfühlt, das seiner fiktiven Stadt Arkham entsprungen sein könnte. Mehrere in unserer Gruppe haben begonnen, den Turm „Pension Arkham“ zu nennen. Aber ich halte immer noch am passenderen Namen „Haus Arkham“ fest.
Die Glyphenjäger Herausforderung ist für alle Spieler verfügbar:
Mehrere grüne Glyphen erscheinen an Orten, an denen auch Totems erscheinen können.
Jeder Spieler, der die Herausforderung aktiviert hat, kann mit diesen Glyphen interagieren.
Während des Endspiel-Untergangs werden die Auren dieser Glyphen kurz angezeigt.
Kurzfilme[ | ]
David King: Die Verpflichtungen eines King
Charlotte und Victor Deshayes: Für immer Seite an Seite
Logs, Geschichten und Notizen: Das Haus Arkham
Belohnungen[ | ]
Durch das Abschließen der entsprechenden Aufgaben der vier Stufen im Foliant erhält der Spieler folgende Glücksbringer:
Bild
Name
Beschreibung
Stufe
Seltsames Präparat
Eine Mischung aus stinkenden Wundsekreten, die der Beobachter gesammelt hat.
STUFE I
Gerinnendes Präparat
Ein seltsamer Umriss beginnt, in der Phiole Gestalt anzunehmen.
STUFE II
Kristallisierendes Präparat
Die Ablagerungen verhärten und verformen sich zu einer vertrauten und furchterregenden Gestalt.
STUFE III
Präparat mit Bewusstsein
Was auch immer das da drin war, es war ohne Zweifel lebendig.
STUFE IV
Trivia[ | ]
Ein "Toise" ist eine alte französische Maßeinheit, die etwa 2 Metern oder 6 Fuß entspricht (Erinnerung 6905).
Davids Hintergrundgeschichte, "Die Verpflichtungen eines King", ist eine direkte Anspielung auf "The Importance of Being Earnest", ein berühmtes komödiantisches Stück des irischen Dichters und Dramatikers Oscar Wilde.
Da sich diese Hintergrundgeschichte mit Davids neu bestätigter Homosexualität befasst, ist der Verweis auf Oscar Wilde sehr passend, denn er war berühmt dafür, schwul gewesen zu sein und wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen, die im viktorianischen Zeitalter illegal waren, wegen grober Unanständigkeit verurteilt worden zu sein.
Ein weiterer Verweis auf Oscar Wilde ist in dem Video zur Vervollständigung der Herausforderungen zu sehen, da an der Tafel der Titel eines anderen Romans von Oscar Wilde zu lesen ist: "Der glückliche Prinz", was wahrscheinlich eine bewusste Wahl aufgrund von Davids Nachnamen ist, da Könige in ihrer Jugend Prinzen sind, bevor sie möglicherweise den Thron besteigen.
Der Begriff "Arkham" bezieht sich auf längst vergessene Dinge, zu denen die Menschen immer noch zurückkehren, oft aus Langeweile.
In mehreren Lovecraft'schen Geschichten, die von James Rich bevorzugt wurden, ist Arkham eine fiktive Stadt, die irgendwo in Massachusetts liegt.
"Arkham House" ist ein real existierender Verlag, der sich auf unheimliche Romane spezialisiert hat.
"Château" ist das französische Wort für "Schloss".